Der Fluch der Halblinge
auch noch sorgfältig studieren. Ich glaube nicht, dass wir schon alles darin gefunden haben.«
Ein Rascheln von Stoff, und eine mit Schnur gebundene Ledermappe wechselte von Hand zu Hand.
»Was sich darin befindet, ist gefährlich genug. Wir müssen handeln. Jetzt!«
»So war es geplant, auch ohne die Seiten. Doch seien wir froh, dass sie uns in die Hände gespielt wurden. Was ist mit dem Gelehrten, aus dessen Haus sie stammen?«
»Er wurde verhört, doch es besteht kein Grund, ihn zu verhaften. Das wäre zu auffällig.«
»Wieso besteht kein Grund? Brychan brachte die Seiten in sein Haus.«
»Aber Wispermund hatte keine Kenntnis von ihnen. Das wissen wir sicher. Es wurde kein Wort, keine Geste versäumt.«
»Warum habt ihr den verrückten Bucca laufenlassen? Der die anderen mit seinem Geschwätz aufgehetzt hat? Er hätte mehr Schaden als die Seiten anrichten können!«
»Er ist uns entwischt. Ein Fehler, aber nicht zu ändern. Er kann uns nicht weiter schaden. Aber da ist noch der andere.«
»Welcher andere?«
»Dessen Volljahr gefeiert wurde. Es steht inzwischen fest, dass er sich nicht bei den übrigen unten im Verlies befindet, und sein Herr weiß auch nicht, wo er ist. Er schien völlig überrascht, als er damit konfrontiert wurde.«
»Der ist geflohen? Er ist noch fast ein Kind. Dass er gerade erst sein Volljahr gefeiert hat, zeigt doch, dass er völlig ahnungslos und unschuldig ist. Wie kam er auf die Idee zu fliehen? Das ist nicht deren Art!«
»Deswegen sind wir ja besorgt. Der eine ist verrückt, wahrscheinlich von dem Gefasel seines Magisters wirr geworden, aber dieser Junge … Den Jungen können wir überhaupt nicht einschätzen. Wir durchkämmen die ganze Stadt, aber ohne Erfolg. Wenn er sich noch hier aufhält, ist er gut versteckt.«
»Wo sollte er denn hingehen, bei allen Feuerdämonen? Er hat noch nie das Haus verlassen und weiß nichts über die Welt! Geschweige denn, dass er Freunde hat!«
»Möglicherweise …«
»Ja? Möglicherweise?«
»Es könnte sein, dass er von den Seiten weiß. Nur eine Vermutung. Vielleicht sucht er nach ihnen. Oder … nach dem Buch. Der Verrückte hat während der Feier schließlich davon gesprochen.«
»Du nimmst ernsthaft an, dass er … die Stadt verlässt und sich auf die Suche ins Ungewisse begibt? Dann wäre er noch verrückter als der andere.«
»Vielleicht ist er das ja. Er sieht anders aus als normale Buccas, wahrscheinlich ist er auch anders.«
»Also schön. Dann stellt sofort eine Truppe zusammen und sucht nach ihm! Folgt jeder Spur. Aber haltet euch zurück! Wenn ihr ihn habt, behaltet ihn im Auge, aber lasst ihn noch frei laufen. Wenn er euch zu dem Buch führt, umso besser. Wir suchen schon so lange danach …«
*
Meister Ian Wispermund lief unruhig in seiner Bibliothek auf und ab. Im Haus war es sehr still, so ganz ohne Bogins, und Verwahrlosung schlich sich ein. Noch war es nicht besonders augenfällig, doch durchaus zu bemerken, wenn man genau hinschaute. Ein falsch herum aufgehängter Mantel, eine Staubfluse in einer Ecke, vor allem aber vergaß der Meister über all den Grübeleien, regelmäßig zu essen. Freundlicherweise übernahm es die Ehefrau des Bruders seiner verstorbenen Gemahlin, ihn zu versorgen. Sie brachte ihm zu essen und etwas Ordnung ins Haus, doch sie hatte im eigenen Heim genug zu tun und konnte bei Weitem nicht ersetzen, was die Bogins leisteten.
»Dir wird nichts anderes übrig bleiben, du brauchst wenigstens eine Dienstmagd und einen Knecht«, stellte sie fest. »Ich kann diese Arbeit nicht ewig machen, ich bin doch nicht deine Frau.«
Auch seine Tochter kam nun ab und zu vorbei, um nach dem Rechten zu sehen, aber das genügte ihrer Ansicht nach nicht. Bisher hatte Meister Ian sich erfolgreich dagegen gewehrt, Fremde ins Haus zu holen. Gerade jetzt nicht. Er konnte niemandem mehr trauen. Außerdem war es fraglich, ob überhaupt jemand in einem Mordhaus arbeiten wollte. Gute Dienstboten zu finden, war derzeit nämlich sehr schwierig, weil sich alle Herrschaften, die Bogins gehalten hatten, in derselben Situation befanden und ebenfalls Bedarf an Dienstboten hatten. Also konnten die Arbeitsuchenden inzwischen wählerisch sein.
»Ich verstehe es einfach nicht«, murmelte der alte Mann, während er im Kreis lief, wobei er allmählich eine Spur auf dem alten Teppich hinterließ. »Was geht da vor sich?«
Jemand schlug die Glocke an seiner Tür, und er verharrte. Öffnen? Sich taub stellen? Abwarten, wie
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