Der Fluch der Hebamme
Bald verbrachten die Überlebenden mehr Zeit damit, die Toten zu begraben, als mit allem anderen. Und die meisten Truppen, deren Anführer gestorben waren, nutzten dies als Anlass, nun ebenfalls nach Hause zu reisen.
Thomas hatte inzwischen jeden freien Augenblick damit verbracht, in der Stadt nach dem Mädchen zu suchen. Doch seine Suche blieb ohne Erfolg. Allmählich begann er zu glauben, dass es doch nur ein Traum gewesen war. Das blieb die einzige – und auch glaubwürdigste – Erklärung.
Ende August war die Seuche so weit abgeflaut, dass Friedrich von Schwaben den Aufbruch nach Akkon anordnete. Ein Hilferuf von dort hatte diese Entscheidung erzwungen. Ludwig von Thüringen, der gemeinsam mit Jakob von Avesnes das Kommando über das fränkische Heer führte, hatte die meisten seiner Leute verloren und wurde selbst von immer heftigeren Fieberanfällen niedergestreckt. Er würde nur noch abwarten, bis er den Sohn des Kaisers begrüßen und die Befehlsgewalt an Heinrich von Champagne übergeben konnte, der mit seinen Leuten schon unterwegs nach Akkon war, und dann über Zypern nach Hause reisen.
Die neu erwarteten Streitmächte sollten endlich das Schicksal herumreißen, nachdem die mittlerweile einjährige Belagerung ergebnislos geblieben war.
Um dem geschrumpften und geschwächten Heer einen weiteren kräftezehrenden Marsch durch von Feinden besetztes Gebiet zu ersparen, entschied der Herzog, seine Männer von Tripolis aus auf dem Seeweg nach Tyros zu schicken, von wo aus es nur noch etwa dreißig Meilen bis Akkon waren. Doch der Fluch, der über ihrem Unterfangen zu liegen schien, wirkte weiter. Drei der Schiffe sanken in einem Sturm.
So waren es kaum noch tausend Mann, die am 7. Oktober 1190 unter Führung Friedrichs von Schwaben Akkon erreichten.
Im Schlamm vor Akkon
D as fränkische Heerlager war auf einem Hügel eine Meile östlich von Akkon errichtet – gut zu verteidigen, da der Hügel nach drei Seiten steil abfiel, und an einem Fluss, der Männer und Pferde mit Wasser versorgte. Das konnte Thomas schon auf den ersten Blick erkennen, als sie sich der Stadt näherten.
Doch genauso gut erkennen ließ sich, wie stark Akkon befestigt war: Die Seeseite der Hafenstadt war von Mauern aus gewaltigen Steinblöcken geschützt, gegen die die Wellen brandeten, die Landseite von starken Mauern, doppelten Wällen und mächtigen Türmen. Vor über einem Jahr war der einstige König Guido hier angerückt, um die wichtigste und reichste Hafenstadt in Outremer einzunehmen und zum Zentrum seines neuen Königtums zu machen. Offensichtlich war er seitdem keinen einzigen Schritt näher an den Ort seiner Begierde herangekommen.
Wieso sind hier keine Belagerungstürme, kein mauerbrechendes Gerät – Trebuchets und Rammen?, fragte sich Thomas. Es ließ sich auch nirgendwo erkennen, dass etwa ein paar Einheiten damit beschäftigt wären, die starken Mauern Akkons zu unterminieren. Wie wollen sie die Stadt einnehmen?
Das schoss ihm durch den Kopf, während er sich mit dem Rest des staufischen Heeres den Weg durch Schlamm und Pfützen in Guidos Lager bahnte. Die Männer um sie herum reagierten auf höchst verschiedene Weise auf ihr Kommen; enttäuscht, mitleidig oder gleichgültig. Sie hatten eine viele tausend Mann starke Streitmacht unter dem römischen Kaiser Friedrich erwartet, einem Heerführer, den selbst Saladin fürchtete. Stattdessen schleppten sich nun ein paar hundert ausgemergelte Gestalten ins Lager, etliche der Ritter sogar zu Fuß statt zu Pferde.
Thomas, der noch zu den wenigen Reitern gehörte, verstand nichts von dem Sprachengewirr, das um ihn herum herrschte. Flämisch, Französisch, Okzitanisch, Dänisch, Italienisch wurde hier gesprochen, geflucht, gebrüllt, vielleicht auch Armenisch, Griechisch, Arabisch, Syrisch – die Sprachen, die in Outremer verbreitet waren. Er konnte es nicht zuordnen und war insgeheim froh darüber, denn viele der Bemerkungen, die offensichtlich ihnen galten, hätten Rupert womöglich schon wieder zu einer deftigen Prügelei veranlasst. Auch ohne die fremden Sprachen zu kennen, machte der Tonfall den Sinn der Rufe offensichtlich: »Seid ihr etwa alle? So wenige? Und warum kommt ihr erst jetzt? Wo ist denn euer großer Kaiser? Und wie sollen wir euch auch noch durchfüttern, obwohl wir selbst nichts zu fressen haben?«
Konrad von Montferrat hatte ihnen einen Lagerplatz gleich neben der Stelle zugewiesen, wo die Thüringer bereits ihren Aufbruch vorbereiteten.
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