Der Fluch der Makaá
zynisch. Mateo entging mein Tonfall nicht. Verlegen biss er sich auf die Lippen. Er musste einsehen, dass er uns etwas überfordert hatte. Schließlich waren wir keine Indianer, und Geschichten über einäugige Frösche waren uns fremd. Wir hatten sie nicht von klein auf am Lagerfeuer erzählt bekommen. Er beschloss, von nun an etwas nachsichtiger mit uns zu sein. Wir konnten ja nichts für unsere Unwissenheit.
„Also dann, auf nach Canaima!“, rief Robert. Mit hochgezogenen Brauen warf er einen letzten kritischen Blick auf das Symbol als wisse er noch nicht recht, was er davon halten sollte, dann heftete er das Blatt wieder in seinen Skizzenblock, verstaute diesen in seinem Rucksack und knipste die Taschenlampe aus. Sogleich schloss uns die Dunkelheit in ihre weiten Arme. Hatten wir uns zu Beginn unserer Bootsfahrt noch frei und zu allem entschlossen gefühlt, so hatte die Nacht etwas Beklemmendes an sich, das wie ein feuchter, schwerer Nebel auf unsere Gemüter drückte und uns zum Schweigen zwang.
Während die Nacht allmählich fortschritt, schien der Fluss kein Ende zu nehmen. Wie eine breite, endlose Schlange wand er sich eintönig durch die Gran Sabana. Stunden waren vergangen, seitdem wir das letzte Wort miteinander gewechselt hatten. Lange schon hörte ich hinter mir das gleichmäßige Atmen, das mir verriet, dass meine Brüder eingeschlafen waren. Und auch ich fühlte mich schläfrig. Doch nicht nur das ständige Paddeln hinderte mich daran meiner Müdigkeit nachzugeben: ohne dass ich es wollte, erschien vor meinem geistigen Auge immer wieder das Symbol der Makaá. Hatte es mich schon vor ein paar Tagen, als Robert es mir im Urwald gezeigt hatte, unheimlich angemutet, so hatte es nun grauenhafte Züge angenommen. Einäugige Frösche, weder tot noch lebendig – wem würde es bei solchen Gedanken nicht flau im Magen werden? Und wir steuerten auch noch direkt auf sie zu! Nein, denk an etwas anderes, Mel! Vielleicht ist ja auch alles halb so wild. Schließlich fahren wir nicht zu den Fröschen, sondern nur zu den Wasserfällen, die nach ihnen benannt sind. Genau! Na bitte, alles kein Grund zum Fürchten. Außerdem hast du ja jetzt einen Schutz gegen das Böse. Unwillkürlich tasteten meine Finger nach der Stirn, genau an die Stelle, an der die Weise Frau ihren Kuss aufgedrückt hatte. Mit einem Mal stutzte ich. Etwas hatte mich schon in jenem Augenblick gewundert, als ich die Weise Frau auf dem Steg hatte stehen sehen, und jetzt, da es mir wieder einfiel, beschloss ich Mateo danach zu fragen. „Mateo?“, wisperte ich nach hinten, und diesmal hatte ich eine bessere Ausrede für meinen Flüsterton, schließlich wollte ich meine Brüder nicht wecken.
„Mh“, machte Mateo zum Zeichen, dass er noch da war.
„Die Weise Frau“, begann ich, „wie hat sie den Weg zum Steg finden können? Sie ist doch blind, oder?“ Ihre nebligen, hellblauen Augen hatten für mich keinen Zweifel daran gelassen. Ich hörte Mateo sich auf seinem Platz zurechtrücken. „Blind wäre der falsche Ausdruck“, flüsterte er zurück. „Nur jemand, der überhaupt nichts sehen kann, ist wirklich blind. Aber die Weise Frau sieht sehr viel. Nicht mit den Augen, aber darauf kommt es ja auch nicht an, oder?“
„Nein, darauf kommt es nicht an“, murmelte ich und tauchte das Paddel wieder in den Fluss. Während die Holzblätter unter sanftem Druck das Wasser verdrängten, fiel mir ein Spruch wieder ein, den ich des Öfteren gehört hatte: Der Narr traut seinen Augen, der Weise Herz und Verstand. Wie wahr, dachte ich…
I n der Schwärze der Nacht verliert man leicht das Gefühl für Zeit. Ich kann heute nicht mehr sagen, wie lange Mateo und ich dem Flusslauf folgten. Die Arme führten die eintönigen Paddelbewegungen beinahe wie von selbst aus, und ich hätte mich mit Sicherheit wie ein Roboter gefühlt, wenn mir nicht schon jetzt vor dem Muskelkater gegraut hätte, der auf diese ungewohnte Betätigung folgen würde wie das Amen in der Kirche. Auch war ich hundemüde, und sehnte mich danach, das Paddel aus den Händen zu legen und mich in ein weiches Bett fallen zu lassen. Doch das war Wunschdenken, da gab ich mich keinen Illusionen hin. Statt auf die Signale meines Körpers zu achten, die laut und eindeutig waren, versuchte ich, den Stimmen der Nacht zu lauschen und dem Flüstern des Flusses. Ich malte mir aus, von welchen Abenteuern er bereits zu erzählen wusste, und ich fragte mich, ob Alexander von Humboldt und Aimé Bonplant
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