Der Fluch der Maorifrau
Gespenster. »Sag das bitte noch mal! Albert McDowell?« Alles drehte sich vor ihren Augen.
»Sophie, was ist los?« John sprang aus dem Wagen und fing sie im letzten Augenblick auf. »Verdammt, du hast ja immer noch nichts gegessen!«
Mit diesen Worten angelte er mit der freien Hand aus dem Inneren des Wagens einen Kanten Weißbrot und forderte Sophie, die schon wieder auf ihren eigenen Beinen stehen konnte, streng auf hineinzubeißen.
Sophie tat, was er von ihr verlangte, und zermarterte sich das Hirn mit der Frage, ob sie ihm offenbaren sollte, warum ihr schwindlig geworden war. Albert McDowell, Johns verbitterter Bruder! Und wenn John Franklin mit Albert verwandt war, dann war er es ja auch mit Annas John!
»Sagt dir denn auch der Name John McDowell etwas?«, fragte sie vorsichtig.
John überlegte. »Da fragst du mich zu viel. Ich vergesse so etwas immer wieder. Ich weiß nur, dass die McDowells alle Anwälte waren. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich heute Morgen erst meine Mutter am Telefon fragen musste, ob dieser Albert wohl zu unserer Sippe gehörte. Ich kenne mich da gar nicht aus. Meine Ma - also ich nenne sie immer noch so - wusste sofort, wer er war. Sie konnte mir auch gleich sagen, dass er nicht zu den beliebteren McDowells gehörte. Im Gegenteil, er war wohl ein verschrobener Junggeselle. Sie hat zu Hause eine Ahnentafel und weiß zu jedem etwas zu sagen. Vielleicht hast du ja mal Lust, meine Ma kennenzulernen. Sie freut sich immer über Besuch, zumal ein Zweig ihrer väterlichen Linie deutschstämmig ist und sie sogar Deutsch spricht. Vielleicht fragst du meine Mutter nach meinem Namensvetter.«
Plötzlich war es Sophie zu viel. Der charmante Anwalt mitsamt seiner Verwandtschaftsverhältnisse und Fürsorge. »Ich werde darauf zurückkommen«, entgegnete sie förmlich. »Wir sehen uns morgen!« Mit diesen Worten reichte sie ihm ihre Hand, die er kräftig schüttelte.
»Ach, bevor ich es vergesse, mein windiger Vorfahre hatte allerdings auch leichtes Spiel, weil es einen Zeugen gab. Den zwanzigjährigen Sohn der Ermordeten. Paul McLean. Der hat die Tat angeblich beobachtet und behauptete, gesehen zu haben, wie sein Vater auf seine Mutter zu getreten sei, nachdem sie ihn angeblich schwer beleidigt hat. Sie soll ihn einen ›jämmerlichen Schlappschwanz‹ genannt haben. Und dann erst sei sein Vater auf sie zu und mit dem Lampenfuß in der Hand gestolpert. Unter uns, damit könnte ein Zeuge heute keinen Blumentopf mehr gewinnen. Das hat sogar der Richter damals im Urteil bemerkt. Die Aussagen des Sohnes seien zweifelhaft, aber das Gegenteil nicht zu beweisen. Wenn du mich fragst, hat der Vater ihn zu der Aussage gezwungen.«
»Davon bin ich überzeugt!«
»Ja, dann fahre ich mal!«, entgegnete John. Ihm war deutlich anzumerken, dass er viel lieber geblieben wäre.
»Auf Wiedersehen«, sagte Sophie knapp.
Sie sah den steinigen Weg entlang, nachdem sein Jeep schon lange verschwunden war, bevor sie gedankenverloren das Haus betrat. In der Diele blieb sie abrupt stehen. Eine Zeichnung fesselte ihre Aufmerksamkeit. Die Zeichnung eines hochgewachsenen Mannes mit krausem Haar, einer Nase, wie sie typisch für Polynesier war, und mit tätowierten Beinen, die unter einem Hüfttuch hervorlugten.
Manono!
Sophie verspürte beim Anblick des Bildes eine tiefe Sehnsucht danach, weiter zu lesen. Zunächst jedoch musste sie sich der Gegenwart stellen. Sie konnte unmöglich hier leben, umgeben von Emmas persönlichen Dingen, so als würde ihre Mutter jeden Augenblick zur Tür hereinkommen. Sophie begann im Bad. Sie sammelte das Duschgel, das Shampoo, benutzte Handtücher sowie den Kulturbeutel und die Zahnbürste ihrer Mutter zusammen und ließ alles in einer Plastiktüte verschwinden. Sie wollte sich in dem Zimmer einrichten, in dem Emma geschlafen hatte. Es war der schönere von beiden Schlafräumen. Es kostete sie sehr viel Überwindung, die am Boden liegende Kleidung, die Sachen aus dem Schrank und sogar das Foto auf dem Nachttisch, das sie, Sophie, mit achtzehn zeigte, zusammenzuraffen und alles nebenan im Kleiderschrank zu verstauen. Den Mut, alles wegzuwerfen oder nach Hinweisen zu durchsuchen, hatte Sophie nicht.
Schließlich riss sie das Fenster auf, ließ die frische Meeresluft hinein und putzte das Zimmer. Erst jetzt fiel Sophie auf, dass auch die Wände des Schlafzimmers mit gerahmten Zeichnungen geschmückt waren. Sophie hielt mit dem Saubermachen inne und betrachtete eine nach der
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