Der Fluch der Maorifrau
anderen. Besonders eine Zeichnung, die offenbar Anna in einem Schaukelstuhl zeigte, faszinierte sie. Sie musste an den Spruch von Kates Freundin an deren zwölftem Geburtstag denken: »Sie sieht aus wie eine alte Krähe!« Da war etwas dran. Sie wirkte verhärmt und von Schicksalsschlägen gezeichnet.
Arme Anna!, dachte Sophie und konnte die Fortsetzung nicht mehr erwarten. Sie ließ den Besen einfach fallen und durchsuchte die Küchenschränke nach etwas Essbarem. Sie fand eine Tüte Chips. Mit ihrer Beute in der einen, dem Manuskript in der anderen Hand setzte sie sich auf die Veranda. Gierig riss sie die Tüte auf und griff hinein, bevor sie da weiterlas, wo sie am Morgen schweren Herzens aufgehört hatte.
Apia, Oktober 1908
Vier Wochen waren seit der heimlichen Liebesnacht vergangen, und Kate fühlte sich bestätigt. Die Welt drehte sich noch. Sie fühlte sich rundherum gesund und so lebenshungrig wie selten zuvor. Abgesehen davon, dass sie sich Tag und Nacht nach Manono sehnte und Maria sie ständig neckte, da sie ja wohl eine Träumerin geworden sei, ging es ihr wunderbar. Vor ihr auf dem Tisch lag ein Brief, den sie noch keines Blickes gewürdigt hatte.
»Ist es deswegen?«, fragte Maria neugierig und deutete auf den Umschlag.
Kate lachte laut auf. »Oh, nein, ganz bestimmt nicht.« Mit diesen Worten riss sie ihn auf und las: »Ich möchte dich heute Nachmittag am Hafen treffen ...« Sie unterbrach sich kichernd und sagte: »In dem kleinen Satz zwei Fehler. Au weia! Aber schau, was der Max noch geschrieben hat!«
»Das will ich gar nicht wissen. Und ich finde es nicht gut, wie du dich über ihn lustig machst. Merkst du denn nicht, dass er dich heiraten will?«
Kate stutzte. Maria schaute verdrießlich drein.
»Kann es sein, dass du dich in ihn verliebt hast?«
»Und, wenn schon, er hat ja nur Augen für dich!«
Kate sah die Freundin nun ernst an. »Ich will ihn aber nicht! Auf keinen Fall, aber ich habe eine Idee. Vielleicht gehst du heute Nachmittag zum Hafen.«
»Aber er erwartet dich!«
»Sag ihm, dass ich krank bin, und vertraue ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, dass ich ihn unerträglich finde.«
»Aber ich würde dich doch niemals verraten!«
»Und wenn ich dich ausdrücklich darum bitte?«
»Das verstehe ich nicht!«
Kate stöhnte auf. Das war das Problem mit Maria. Sie brauchte manchmal etwas länger, um Zusammenhänge zu begreifen. »Das ist die Gelegenheit, ihn für dich zu gewinnen. Tröste ihn! Du wirst schon sehen. Den Antrag macht er dir!«
Maria lief rot an. »Du meinst, er würde mich fragen, ob ...«
»Natürlich. Er ist gekränkt, weil ich ihn nicht mag, und du bist zur Stelle. Willst du ihn denn?«
»Ja, nichts lieber als das.«
Kate gab Maria einen ermunternden Stups. »Wenn dem so ist, worauf wartest du noch? Komm, wir suchen das passende Kleid aus.« Mit diesen Worten verschwanden sie kichernd im Haus.
Kaum hatte sich Maria aufgeregt zu dem Treffen mit Max Schomberger verabschiedet, als Granny sich die Treppen zur Veranda hinaufschleppte. Sie wirkte alt und gebrechlich, und in ihrem Gesicht stand nichts als Sorge geschrieben.
Kate erschrak. »Granny, was ist geschehen?«, fragte sie ängstlich.
Ihre Großmutter ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen. »Ach, Kind, der gesamte Kakao ist vom Kanker bedroht. Einige Rinden sind schon angefault. Vetter Hans hat nämlich nur die Sorte Criollo angebaut, die besonders anfällig ist. Nun werden Brenner und Manono versuchen, alle Stämme, die noch nicht befallen sind mit Kalk zu bestreichen; und vor allem muss unbedingt Forastero gepflanzt werden. Den erwischt die Rindenfäule nicht.«
»Werden da nicht alle Hände gebraucht? Soll ich helfen?«, bot Kate nicht ohne Hintergedanken an.
»Das ist lieb, aber Manono hat einen Haufen Helfer zusammengetrommelt. Das wird die beiden ein wenig entlasten, denn der arme Junge arbeitet bis zum Umfallen.«
Kate hielt den Atem an. Sie wollte am liebsten sofort zu ihm.
»Und noch etwas: Maria wird auch oben gebraucht, bis wir den Kanker besiegt haben. Sie muss für die Helfer kochen. Das heißt, dass du hier unten den Haushalt machen wirst. Ich werde bestimmt ein paar Tage dort oben verbringen müssen. Es geht um unsere Existenz. Sieh zu, dass Paula gut versorgt wird! Ich werde gleich fahren. Sag mal, wo steckt Maria überhaupt?«
Kate zuckte zusammen. »Die ist noch einkaufen und kommt erst gegen Abend zurück. Soll ich dich begleiten?«, bot Kate ihrer Großmutter
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