Der Fluch der Maorifrau
Promenade. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Hatte sie sich an den Strand geschleppt? Todkrank und mitten in der Nacht?
Kate überquerte die Hecke, die das Haus zum Strand hin abgrenzt, und ließ ihren Blick schweifen. In der Ferne zeichnete sich etwas am Strand ab. Kate rannte, als müsse sie um ihr Leben laufen. »Granny!«, schrie sie, bis sie heiser war. »Granny!«
Bleich wie der Tod lag ihre Großmutter im Sand. Im Mondlicht schimmerte ihr fahles Gesicht. Kate hockte sich neben sie und nahm ihren Oberkörper in den Arm. Die Großmutter atmete noch. Schwach, sehr schwach.
»Granny!«, schluchzte Kate. »Granny!«, als sich die Lippen ihrer Großmutter zu einem Wort formten. »John«, stöhnte sie, »John!«, bevor ihre Stimme brach.
Laut schluchzend wiegte Kate den leblosen Körper wie ein Kind hin und her, bis Paula sich keuchend neben ihr in den Sand fallen ließ und die Hände nach Anna ausstreckte. Behutsam ließ Kate ihre tote Großmutter in Paulas Arme gleiten. Sie selber setzte sich nahe an das Meer, sodass ihre nackten Füße von Wellen umspielt wurden. Sie ließ ihren Blick über die glitzernde Oberfläche schweifen. Er blieb an einer kleinen Kiste hängen, die auf dem Wasser tanzte. Ohne nachzudenken, watete sie ins Meer, bis sie zur Hüfte im angenehm warmen Wasser stand und nach der Kiste greifen konnte.
Es war eine schöne Kiste aus hellem Holz. Kate setzte sie in den Sand und öffnete sie. Darin lag ein Buch mit einem schwarzen Ledereinband.
Kate nahm es vorsichtig in die Hand. Ihr Blick fiel nun auf einige Bilder, die am Boden der Kiste lagen. Sie erstarrte. Sie hatte es geahnt. Die Kiste hatte ihrer Großmutter gehört, denn das Bild zeigte Anna mit einem grobschlächtigen Mann an ihrer Seite. Mein Großvater Christian, dachte Kate. Wie grimmig er ausschaut! Mit zitternden Fingern betrachtete sie nun das zweite Bild. Ein Mann mit einem freundlichen, offenen Blick. Er sah gut aus und hatte sogar ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Es war John, ihr Großvater John! Und plötzlich wusste sie, nach wem Granny im Tode gerufen hatte.
»Kate, wir müssen sie nach Hause bringen«, jammerte Paula verzweifelt.
Kate legte hastig alles in die Kiste zurück, schloss den Deckel und trat mit ihrer Beute in der Hand auf Paula zu, die Anna in einem fort über die bleichen Wangen strich.
»Was hast du da?«, fragte Paula aufgeregt.
»Ihr Tagebuch und Fotos!«
»Oh Gott, sie hat es vernichten wollen. Wirf es ins Meer, so wie es ihr Wille gewesen wäre!«
»Nein, Paula, ich werde es behalten. Und eines Tages werde ich es lesen. Wenn ich stark genug dazu bin.«
Paula sah sie aus schreckensweiten Augen an. »Versprich mir eines! Lies es erst, wenn ich eines nicht allzu fernen Tages bei ihr sein werde. Wenn sie nicht mit dir darüber gesprochen hat, darf ich es erst recht nicht tun. Du würdest mich in Verlegenheit bringen mit deinen Fragen. Ich kenne dich doch, mein Kind!«
»Versprochen!«, Kate buddelte mit den bloßen Händen ein tiefes Loch in den Sand und ließ die Kiste darin verschwinden.
»Wie müssen Großmutter nach Hause bringen. Ich hole mir die Kiste später«, erklärte sie und bat Paula, Grannys Füße zu nehmen. Sie packte sie unter den Achseln. So trugen sie die Tote ins Haus zurück. Kates Arm schmerzte höllisch, aber sie ertrug es, ohne einen Laut von sich zu geben. Zu Hause legten sie Granny in ihr Bett. Sie sah so aus, als würde sie friedlich schlafen.
Kate und Paula wechselten sich an ihrem Bett die ganze Nacht über ab. Als Paula Totenwache hielt, lief Kate zum Strand zurück, holte sich die Kiste und ließ sie in ihrer Kommode verschwinden. Eines Tages würde sie den Mut haben, das Tagebuch zu lesen. Nur das Bild ihres Großvaters John nahm sie vorher aus der Kiste und betrachtete es eingehend. Es hatte etwas Tröstendes an sich. So, als würde er zu ihr sprechen.
Es war schon hell, als Kate vor lauter Erschöpfung auf der Veranda einschlief. Vor ihr auf dem Tisch lagen zwei Zeichnungen. Eine von Manono und eine von Granny, wie sie in diesem Sessel zu sitzen pflegte.
»Ich habe sie gut getroffen, oder?«, fragte Kate schläfrig, als Paula sie weckte. »Damit ich sie niemals vergesse. Komm, setz dich! Ich möchte auch eine Zeichnung von dir machen, aber nicht erst, wenn es zu spät ist.«
Die Trauerfeier für Anna Peters fand in der Fremdenkirche statt, und sogar die Herren der Plantagengesellschaft samt Gattinnen hatten den Weg trotz ihres Widerwillens gegen
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