Der Fluch der Maorifrau
zum Hals. In diesem Augenblick fürchtete sie sich sogar vor dem Schatten an der Wand. Doch diesen Schatten warf sie selbst, weil sie sich im Bett aufgerichtet und fassungslos über Emmas Beichte gebeugt hatte. Ich kann sie so gut verstehen, dachte sie. Aber ob Thomas das auch kann? Sophie schluckte trocken. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass es halb vier Uhr morgens war. Zu früh, um die Wände anzustarren und auf einen möglichen Eindringling zu warten. Sophie kam sich plötzlich albern vor. Entschlossen löschte sie das Licht. Gleich nach dem Aufstehen werde ich John anrufen und ihn bitten, bei mir zu übernachten, nahm sie sich fest vor. Es tat so gut, an ihn zu denken. An seine braunen Augen, seine Stimme und seine zärtlichen Hände ...
Sophie rieb sich verwundert die Augen. War sie etwa eingeschlafen? Sie erinnerte sich nur noch daran, dass sie schließlich an John gedacht hatte. Sie setzte sich auf und blickte sich prüfend um. Die Kommode stand noch an ihrem Platz. Keiner hatte versucht, in ihr Zimmer einzudringen.
Es war bereits weit nach zehn Uhr. Langsam kam ihr Emmas Geschichte wieder in den Sinn. Sie fragte sich, ob es wohl für ihren Vater und sie wirklich besser gewesen wäre, wenn sie davon gewusst hätten. Glücklicher wären sie bestimmt nicht geworden! Oh, Emma, verzeih mir, dass ich manchmal so böse auf dich war, weil du mich damit allein gelassen hast!, dachte sie versöhnlich.
Sie sprang aus dem Bett. Nachdem sie die Kommode zur Seite geschoben hatte, beschloss sie, einen Strandlauf zu machen, denn draußen war es warm und freundlich und sie brauchte dringend frische Luft. Doch vorher musste sie die Polizei anrufen und nach dem Laufen dann endlich John.
Sie wählte die Nummer der Polizeistation von St Kilda und erklärte dem zuständigen Officer, was in der letzten Nacht geschehen war.
»Und warum rufen Sie denn jetzt erst an?«, fragte er vorwurfsvoll.
Sophie blieb ihm die Antwort schuldig. Sie konnte ihm ja schlecht erzählen, dass sie erst einmal hatte herausfinden wollen, warum ihr Bruder das getan hatte. Nein, Thomas würde sie ihm gegenüber mit keinem Wort erwähnen. Bevor sie das in Erwägung zog, wollte sie mit John gesprochen haben.
»Wir sind gleich da«, versprach der Officer.
Sophie entschied sich, erst einmal einen starken Kaffee zu trinken, um die Gespenster dieser Nacht zu vertreiben.
Nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatte und sie noch überlegte, ob sie trotzdem eine Runde laufen und der Polizei einen Zettel an die Tür machen sollte, klingelte es. Natürlich vermutete sie, dass es die zuständigen Beamten waren, doch als sie die Tür öffnete, trat sie vor Schreck einen Schritt zurück.
»Darf ich?«, fragte er und setzte bereits einen Fuß in die Tür. Sophie verschlug es die Sprache. Am helllichten Tag hatte sie ihn nicht erwartet, doch auch er schien noch nach den richtigen Worten zu suchen.
»Tom McLean?«, kam sie ihm zuvor.
Er nickte und streckte ihr die Hand zum Gruß entgegen.
Diesen Augenblick nutzte Sophie, um sich aus der Garderobe einen Regenschirm zu greifen. »Einen Schritt weiter, und ich schlage zu.«
»Ich will Ihnen nichts tun!«, sagte Tom McLean gequält und trat noch einen Schritt auf sie zu.
Ein Fehler, denn Sophie zögerte nicht, mit der Spitze des Schirms nach ihm zu schlagen. Sie traf ihn am Arm und schrie: »Jede Minute wird die Polizei hier eintreffen. Also versuchen Sie erst gar nicht, mir etwas anzutun.«
»Warum sollte ich Ihnen etwas antun?«, erwiderte der hochgewachsene Mann ehrlich erstaunt.
»Geben Sie es zu, Sie sind Thomas Holden!« Sophie wollte Zeit gewinnen. Ich muss reden, bis die Polizei da ist, dachte sie. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, während sie weiter mit dem Schirm herumfuchtelte.
»Bitte, Sophie, quälen Sie mich nicht! Ich werde Ihnen eines Tages erzählen, wie alles war, aber jetzt komme ich wegen gestern Nacht. Und bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Geht es Judith gut? Ich bin fast gestorben, als ich den Notarztwagen gesehen habe.«
»Blöd gelaufen, was? Sie wollten mich mitsamt den Aufzeichnungen abfackeln, doch das ist Ihnen nicht gelungen. Was haben Sie jetzt vor? Gift, wie Ihr Vater es gemacht hat?«
Da veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Aus der Verunsicherung wurde blanke Wut. »Verdammt, hören Sie bloß auf damit! Ich bin noch nicht in der Lage, mit Ihnen darüber zu sprechen. Ich möchte nur eines: von Ihnen wissen, wie es Judith geht. Ich kann doch nach allem, was war, nicht
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