Der Fluch der Maorifrau
hatte. Dabei hätte sie von dem einen oder anderen alten Gebäude gern gewusst, ob es bereits im Jahre 1863 hier gestanden hatte. Nun aber wandelte sich das Straßenbild. Bürohäuser und Shoppingcenter, so weit das Auge reichte.
Plötzlich erkannte sie die Gegend wieder. Hier war Johns Büro. Als sie an dem Gebäudekomplex vorbeikam, in dem Franklin, Palmer & Partner ihren Sitz hatten, ging sie unwillkürlich schneller. Sie wollte John nicht zufällig in die Arme laufen, weil sie befürchtete, dass es sie verlegen machen würde.
Nachdem sie den großen Platz, den Octagon, überquert hatte, begann die Princes Street. Viele alte Gebäude säumten die Straße, aber es waren vorwiegend Kontorhäuser. Erschöpft blieb sie vor einem davon stehen. Was hatte sie sich erhofft? Dass irgendwo dazwischen das Haus ihrer Ahnin Anna stand und auf sie wartete?
Sophie nahm sich ein Taxi und beschloss, sich wieder im Hotelzimmer einzuigeln. Hier draußen fühlte sie sich seltsam unsicher. Dabei gab es weit und breit nichts, was ihr unangenehm war. Im Gegenteil, von der Atmosphäre her war es eine Stadt, in die Sophie sich sofort hätte verlieben können, wenn da nicht die Angst wäre, von dieser fremden Welt verschlungen zu werden.
Als Sophie zurück im Hotel war, fiel ihr erster Blick auf Emmas Handtasche. Sie öffnete sie und musste unwillkürlich lächeln. Ein einziges Chaos. Typisch Emma! Sophie kramte die Brieftasche hervor. Sie war leer bis auf ein paar Quittungen, Scheckkarten und zwei Fotos. Eines von ihrem Vater und eines von ihr.
Sie betrachtete das Bild ihres Vaters genauer. Es war ein Foto, das sie gar nicht kannte und das sie mit Wehmut erfüllte. Aber was war das? Sie stutzte. Hinter dem Foto war eine regenbogenfarbene Visitenkarte versteckt. Die Karte der sogenannten Lebensberaterin, der Emma diese Reise in den Tod zu verdanken hat, dachte Sophie wütend und schleuderte sie zu Boden.
Dann erst kam ihr der Gedanke, dass diese Frau Emmas Geheimnis womöglich kannte und Licht in das Dunkel bringen konnte. Ob ich sie einfach anrufen sollte, um dem Spuk ein Ende zu bereiten?, fragte sich Sophie. Nein, das würde ihr Problem nicht lösen. Entschlossen hob sie die Karte wieder auf, stopfte sie in die Brieftasche zurück und ließ alles wieder in die Tasche gleiten. Für heute hatte sie genug gesehen. Sie fühlte sich nicht mehr in der Lage, in den Sachen ihrer Mutter zu wühlen, und legte die Handtasche ganz hinten in den Schrank.
Dunedin, im Januar 1875
Anna kehrte an diesem Neujahrstag nachdenklich nach Hause zurück. Ihr war heiß, denn die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, und es wehte kein Lüftchen. Sie hätte mit der Kutsche fahren können, doch sie hatte es vorgezogen, sich zu bewegen.
Das Ehepaar McDowell verbrachte die Weihnachtstage stets in Dunedin, und Anna hatte ihnen einen Besuch abgestattet. Klara war dort geblieben, denn obwohl sie Timothy höchstens zweimal im Jahr sah, war er ihr bester Freund geblieben. Er war ein fröhlicher Junge, der stets zu Späßen aufgelegt war. Es rührte Anna, mit welcher Hingabe der Dreizehnjährige mit einem Mädchen spielte, auch wenn eines nicht zu übersehen war: Noch immer bestimmte Klara, wo es langging.
John hatte wie immer blendend ausgesehen - und glücklich! Lucille tut ihm gut. Keine Frage, dachte Anna. Und ich kann es sogar verstehen.
Obwohl sie John immer noch liebte und begehrte, hatte sie seine unkomplizierte, stets fröhliche Frau inzwischen ins Herz geschlossen. Rein äußerlich war Lucille McMyer weit davon entfernt, eine zweite Mary zu sein. Sie hatte ein zu spitzes Näschen und dünnes dunkelblondes Haar. Außerdem war sie klein und gedrungen, aber sie sprühte in ihrer warmherzigen Art nur so vor Charme. Alle Herzen flogen ihr zu. Selbst Christian wurde ganz weich in ihrer Gegenwart. Man musste sie einfach mögen.
Anna verlangsamte den Schritt. Ihr war unwohl. Schweiß lief ihr den Nacken hinunter bis in den Kragen. Der Fußmarsch war keine gute Idee gewesen. Ihre Gedanken kreisten wie so oft um die Frage, wie ihr Leben wohl aussähe, wenn sie die Frau an Johns Seite wäre. Oder war es eher Christians hektischer Aufbruch in die Niederlassung gewesen, die sie ins Schwitzen brachte? Es war Neujahr. Da gab es in der Niederlassung eigentlich nichts zu tun. Deshalb hatte Christian sie eigentlich zu den McDowells begleiten wollen. Aber dann war ein Mitarbeiter der Firma aufgetaucht und hatte ihn dringend zu sprechen gewünscht. Christian
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