Der Fluch der Maorifrau
ihrer großen Verwunderung zu mehr als einem Drittel abgerissen. Ihr Blick blieb an dem übrig gebliebenen oberen Fetzen Papier hängen. Gebannt las sie: Es war reiner Zufall, dass Emma das Dokument fand. Sie hatte in Kates Schreibtisch nach einer Briefmarke gesucht. Und nun stand es dort schwarz auf weiß: Ihre Mutter war gar nicht im Jahr nach ihrer Geburt gestorben, sondern erst fünf Jahre später.
Sophie las den Satz wieder und wieder. Langsam dämmerte es ihr, warum sie den Namen Holden nicht finden konnte. Er gehörte zu Emmas Geschichte, und die gab es nicht. Jedenfalls nicht in diesen Aufzeichnungen. Aber warum hatte Emma dieses Manuskript ohne ihre eigene Geschichte in der Kanzlei abgegeben? Warum die leeren Seiten? Damit fehlte doch für sie, Emmas Tochter, das Wesentliche. Das erschien Sophie mehr als unwahrscheinlich! Ihr wurde eiskalt bei dem Gedanken, dass es diese Blätter bestimmt irgendwo gab, aber wo? Vielleicht hatte Emma geahnt, dass sie ungestüm vorpreschen würde auf der Suche nach dem Namen Holden und hatte sie davor schützen wollen, dabei die Geschichte ihrer Ahnen zu übergehen? Ob ich die Antwort in Pakeha finde?, fragte sich Sophie. Sie spürte, wie ihre innere Kälte sich in eine flammende Hitze verwandelte, als würde sie schon der Gedanke daran verbrennen.
Mit einem Mal wurde Sophie bewusst, was sie in derartige Aufregung versetzte: Sie war nicht nur auf der Suche nach Emmas Vergangenheit, sondern auch nach einem Teil von sich selbst. Natürlich konnte sie jetzt alles daransetzen, möglichst schnell den unbekannten Erben zu finden. Sie konnte sich aber auch die Zeit nehmen, die sie brauchte, um ihre eigenen Wurzeln auszugraben. Und die führten sie unweigerlich zu jenem Haus. Emma hat sich ganz sicher etwas dabei gedacht, mich dorthin zu locken!, dachte Sophie. Sie beschloss, gleich nach der Beerdigung in das Haus ihrer Mutter nach Ocean Grove zu fahren. Wenn ich Pakeha gesehen habe, kann ich bestimmt endlich nach Deutschland zurückkehren, sagte ihr der Verstand, während eine innere Stimme daran zweifelte.
Dunedin, im Januar 1870
Beim Aufwachen sah Anna als Erstes den besorgten Blick von Doktor Warren. Ihr Hausarzt war ein gutmütiger Mann in den besten Jahren, in dessen Augen Mitgefühl stand.
»Das Kind? Was ist mit dem Kind?«, wollte sie fragen, aber ihre Lippen formten diese Sätze nur lautlos, denn ihr Mund war so trocken, dass sie nicht sprechen konnte.
Tröstend strich Warren ihr über die Wange. »Sie dürfen sich nicht aufregen«, raunte er besorgt. »Sie haben viel Blut verloren!«
»Ich habe es verloren, nicht wahr?«, hauchte Anna jetzt.
Doktor Warren nickte.
»Was ist geschehen?«, fragte Anna, denn sosehr sie sich auch bemühte, ihre Erinnerung reichte nur bis zu dem Augenblick, als Christian sie als Hure beschimpft hatte.
»Sie sind die Treppe hinuntergestürzt, und Paula, die treue Seele, hat sie dort gefunden. Sonst wären Sie wohl verblutet. Offensichtlich hat Ihr Mann tief und fest geschlafen.«
Sofort stand alles wieder vor ihrem inneren Auge. Anna lag die Wahrheit auf der Zunge, doch sie schluckte die Worte hinunter. Was hatte sie davon, wenn alle Welt wusste, dass ihr eigener Mann sie hatte umbringen wollen? Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er Erfolg gehabt hätte, dachte sie verzweifelt. Aber dann verscheuchte sie ihre Todessehnsucht hastig. Klara brauchte sie doch!
»Ich sehe morgen wieder nach Ihnen. Paula kümmert sich um Sie. Wir haben versucht, Ihren Mann zu wecken, aber er ist nicht zum Aufstehen zu bewegen. Es ist heute nicht der Tag, darüber zu sprechen, aber wenn er so weitermacht, richtet er sich zu Grunde und wird nicht mehr lange leben«, mahnte der Arzt.
Wenn Doktor Warren wüsste, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche!, durchfuhr es Anna, aber sie nickte nur.
»Er hat auch noch gar nicht begriffen, dass Sie sein Kind verloren haben«, bemerkte der Arzt und fügte mitfühlend hinzu: »Vielleicht bringen Sie es ihm schonend bei, wenn er wieder ansprechbar ist.«
Ich werde nie mehr mit ihm sprechen, schwor Anna sich und wandte sich zur Wand. Endlich kamen die erlösenden Tränen. Leise verabschiedete sich der Arzt und ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
»Hier ist ein heißer Tee für Sie!«
Anna drehte sich um und sah ihre Haushaltshilfe dankbar an.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, dass Sie den Arzt geholt haben, nachdem ich die Treppe hinuntergefallen bin«, sagte sie.
Paula kniff die Lippen fest
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