Der Fluch der Maorifrau
Alkoholkonsum redete. »Und du kannst dich sonst an nichts mehr erinnern?«, hakte sie ungläubig nach.
»Nein. Da ist nur ein schwarzes Loch in meinem Kopf«, entgegnete er gequält.
»Ich werde mit Klara nach Deutschland zurückkehren«, sagte Anna nun mit fester Stimme.
Christian fuhr zusammen. »Du kannst mir doch mein Kind nicht nehmen!«, widersprach er heftig.
»Ich werde mit einem der nächsten Schiffe reisen«, erklärte sie ungerührt.
Christian ließ sich auf den Stuhl neben ihrem Bett fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Nach einer halben Ewigkeit ließ er sie sinken, und wo eben noch die Scham über sein Verhalten zu lesen war, flackerte nichts mehr als kämpferische Entschlossenheit. »Ich kann dich nicht aufhalten, Anna, aber Klara bleibt hier! Es ist deine Entscheidung! Wenn du auf dein Kind verzichten willst, soll es mir recht sein. Ich werde um meine Tochter kämpfen. Und stell es dir nicht so leicht vor, gegen mich zu gewinnen. Ich werde alle Register ziehen! Und selbst, wenn du aus dem Kampf als Siegerin hervorgehen solltest, für Klara wird es die Hölle. Glaube mir!« Mit diesen drohenden Worten wollte Christian Annas Zimmer verlassen.
»Warte! Unter gewissen Bedingungen würde ich bleiben!«, rief sie ihm verzweifelt hinterher.
Er drehte sich langsam um.
Anna setzte sich im Bett auf. »Ab jetzt trinkst du keinen Tropfen Alkohol mehr! Du wagst es nie wieder, mein Zimmer zu betreten! Und du schlägst mich nicht. Hörst du? Nur ein einziges Mal, dann verschwinde ich bei Nacht und Nebel. Und zwar mit Klara! Ich schwöre dir, ich tu's!«
»Versprochen!«, murmelte Christian.
Dunedin, 28. Dezember 2007
Als Sophie von den Aufzeichnungen aufblickte, herrschte reges Treiben im Park. Auf dem Rasen vor ihr spielten ein paar Maorikinder mit einem Ball, und eine Gruppe chinesischer Student hatte sich zu einem Picknick niedergelassen.
Sophie überlegte, was sie mit dem angebrochenen Tag anfangen sollte. Sie musste sich regelrecht zwingen, auf das Weiterlesen zu verzichten, doch wäre es nicht sinnvoller, sich endlich ein Bild von dieser Stadt zu machen, in der ihre Ahnen gelebt hatten? Rasch verstaute Sophie das Manuskript in ihrer Tasche und stand auf. Ein vornehm gekleideter älterer Herr steuerte auf die Bank zu. Er trug ein Jackett mit Krawatte und eine Aktentasche unter dem Arm. Dann ging Sophies Blick tiefer, und sie stutzte. Er trug zu dieser Aufmachung kurze Hosen. Sophie musste lächeln. Der Fremde lächelte zurück. Ganz schön locker, die Menschen hier, dachte sie und sog tief den Duft ein, den die vielen fremdartigen Pflanzen verströmten, bevor sie auf die Straße trat.
Anna hatte in der Princes Street gewohnt, wenn sie sich recht erinnerte. Sophie holte ihren Stadtplan hervor und sah sich an, wie sie dorthin gelangen würde. Sie musste sich links halten, bis zum Octagon gehen und dann immer weiter geradeaus. Das war ein ganz schönes Stück zu Fuß, aber das machte ihr gar nichts aus. Sie hatte sich in den letzten Tagen kaum bewegt, was für sie, die ansonsten täglich joggte, ganz und gar ungewöhnlich war. Auf der George Street überlegte sie, ob sie in einem der Cafés eine Pause einlegen sollte. Gerade eben war sie an einem besonders einladenden vorbeigeschlendert. Ja, das gönne ich mir, beschloss sie und drehte um. Da bemerkte sie einen hochgewachsenen Mann, der blitzschnell in einem Hauseingang verschwand. Sofort klopfte ihr Herz bis zum Halse. Das ist nur ein Zufall, der meint nicht mich, beruhigte Sophie sich, aber trotzdem schickte sie einen prüfenden Blick in den Hauseingang. Dort war niemand zu sehen. Nicht, dass ich noch an Verfolgungswahn leide, ermahnte sie sich. Dennoch pochte ihr Herz immer noch, und sie entschied sich, ihren Weg eilig fortzusetzen.
Wie getrieben hetzte sie nun die Straße entlang. Nur flüchtig aus den Augenwinkeln nahm sie die vielen kleinen Geschäfte wahr, in denen sie unter anderen Umständen liebend gern gestöbert hätte. Sie konnte sich nicht helfen, sie fühlte sich verfolgt. Abrupt blieb sie stehen und drehte sich um, aber weit und breit gab es niemanden, der in Hauseingänge flüchtete. Im Gegenteil, die Passanten zeigten eine Entspanntheit, die Sophie auf dem Hamburger Jungfernstieg selten erlebte. Es fehlte die Hektik.
Auch Sophie verlangsamte nun den Schritt und atmete tief durch. Es sind nur deine Nerven, sagte sie sich. Und doch, sie konnte nicht wie eine normale Touristin genießen, was diese Stadt alles zu bieten
Weitere Kostenlose Bücher