Der Fluch der Maorifrau
bin mit meinen Eltern 1863 von England auf einem Schiff namens Pride of Yarra nach Neuseeland gekommen. Mein Vater sollte Lehrer auf dem neu gegründeten Jungengymnasium werden. Die Familie meines Vaters hatte es durch das Gold bereits zu einigem Wohlstand in Otago gebracht. Wir waren alle furchtbar aufgeregt, standen an der Reling und konnten bereits Land sehen, als ein Raddampfer auf uns zuhielt. Es gab einen ohrenbetäubenden Lärm, und alles fiel durcheinander. Menschen und Tiere. Es war ein Geschrei und Gestöhne. Ich verlor meine Eltern und meine Geschwister. In Todesangst klammerte ich mich an einem Holzstück fest. Auch noch, als ich bereits im Wasser schwamm. Die Pride ofYarra ist im Hafen von Otago untergegangen. Meine Eltern und meine Geschwister sind ertrunken, und ich war plötzlich die einzig Überlebende meiner kleinen Familie. Mein Onkel hat mich bei sich aufgenommen, doch kaum war ich achtzehn, da gab er mich dem reichen Schafzüchter Philipp McLean zur Frau. Schon in der Hochzeitsnacht hat er sich wie ein betrunkenes Tier über mich hergemacht, aber ich will nicht klagen. Er hat mir wunderbare Kinder geschenkt.«
Alle schwiegen. Anna senkte betreten den Kopf, aber dann trat sie zu Melanie und umarmte sie stumm. Und in diesem Augenblick wusste sie, dass sie endlich wieder eine Freundin gefunden hatte.
Als Anna schließlich nachdenklich nach Hause zurückkehrte, streckte ihr Paula triumphierend vier volle Whiskeyflaschen entgegen. »Es war sein ehemaliger Laufbursche. Ich habe mich schon gewundert, warum er ihn besucht hat. Als er vorhin vor der Tür stand, war es mir sonnenklar. Er hat es zugegeben und das Teufelszeug freiwillig herausgerückt.«
Mit sichtlichem Vergnügen leerten die beiden Frauen wenig später die braune Flüssigkeit im Garten unter dem Rata aus, der gerade in seinem schönsten Rot erstrahlte. »Hoffentlich blüht er nächstes Jahr nicht in brauner Farbe«, kicherte Paula.
»Oder er wankt wie ein alter Säufer«, ergänzte Anna.
Es dauerte noch sieben lange Tage, bis Christian wieder einen klaren Kopf besaß. Dann stand er auf, als wäre nichts geschehen, und trat noch am selben Tag den Posten bei der Schottischen Handelsniederlassung an.
Die folgenden Wochen verliefen friedlich, ohne dass es zu einem Rückfall kam. Nur eines hatte sich geändert: Wenn Christian nach Hause zurückkehrte, roch er nicht mehr nach Rose, sondern nach Jasmin. Jedenfalls wehte dieser Duft über den ganzen Flur. Anna störte das nicht. Im Gegenteil, sie war erleichtert darüber, dass er eine neue Geliebte hatte, die offensichtlich einen guten Einfluss auf ihn besaß. Manchmal wünschte sie sich sogar, dass er auch über Nacht bei dieser Frau bleiben würde, denn sie fühlte sich wohler, wenn sie ihn nicht im Hause wusste. Christian jedoch wollte auf keinen Fall, dass Klara etwas davon erfuhr. Jeden Morgen stand er mit seiner Tochter auf und verabschiedete sich freundlich von ihr.
Obwohl ihr Mann dem Alkohol entsagte, versäumte Anna fortan nicht ein einziges Treffen im Salon von Mauren Clark. Und beim letzten Mal hatte sie sich sogar getraut, über ihr eigenes Schicksal zu sprechen, aber nur, soweit es Christians Sauferei betraf. Dass sie einen anderen liebte, dessen Kind sie auf so auf brutale Weise verloren hatte, bewahrte sie tief in ihrem Herzen.
Dunedin, 29. Dezember 2007
Jetzt hat Emma ihren Willen und liegt in ihrer geliebten neuseeländischen Erde, dachte Sophie traurig und betrachtete John Franklin aus den Augenwinkeln. Sie standen bereits eine Weile vor ihrer Hotelzimmertür. Er hatte sie dorthin begleitet und konnte sich offensichtlich nicht dazu durchringen, sie allein zu lassen. Sophie war todmüde. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt.
Judith' Versuche, sie nach der Beerdigung einzuladen, damit Sophie noch ein wenig auf andere Gedanken kam, hatte sie rigoros abgelehnt. Es war verrückt, aber sie wollte nur eines: Emmas Geschichte weiterlesen!
Die Beerdigung war wie ein schlechter Traum an ihr vorübergerauscht. Die Worte des Geistlichen waren nicht zu ihr durchgedrungen. Sie hatte wie versteinert auf den blumengeschmückten Sarg gestiert. Der Kopf sagte ihr, dass ihre Mutter Emma de Jong darin lag, aber ihr Herz weigerte sich noch immer, es zu glauben. Sophie hatte nicht eine Träne vergossen.
Das Einzige, was sie überhaupt gespürt hatte, war die Wärme und Zuwendung, die ihr die beiden Anwälte entgegenbrachten, die in der kalten Kapelle rechts und links von ihr
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