Der Fluch der Maorifrau
Er lachte trocken auf. »Du hast nichts von einer Großmutter! Du bist schöner denn je! Mein Gott, Anna, du bist wunderschön!«
Anna befürchtete, dass sie rot geworden war. »Schmeichler. Lass das nicht Lucille hören!«, flüsterte sie liebevoll. Besorgt bemerkte sie, dass sich seine Gesichtszüge verfinsterten. Sie konnte schwer einschätzen, welches Gefühl ihn gerade übermannte, aber irgendetwas lag ihm auf der Seele. Täuschte sie sich, oder wurden seine Augen feucht? »John, was ist los?«, fragte sie erschrocken.
Verstohlen wischte er sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Er weinte wirklich. Wenn sie allein gewesen wären, hätte sie ihn umarmt, aber so? Jeden Augenblick konnten andere Gäste kommen und die Lage missverstehen.
»Sie hat, wenn wir Glück haben, nur noch ein Jahr!«, presste er mit bebender Stimme hervor.
Anna wurde eiskalt. »Sprichst du von Lucille? Was heißt, sie hat nur noch ein Jahr?« Ihre Stimme hatte sich überschlagen.
»Der Arzt sagt, länger als ein Jahr wird sie es nicht überleben«, erwiderte er tonlos.
Anna starrte ihn fassungslos an. »Was überleben?«, stammelte sie.
»Sie leidet unter einer seltenen Krankheit, an der auch schon ihre Mutter gestorben ist. Der Arzt hat keine Hoffnung mehr.«
»Arme Lucille! Oh, mein Gott, John, das tut mir so leid! Weiß sie es?«, fragte Anna, die aschfahl im Gesicht geworden war.
»Ja. Sie hat mich gebeten, es dir zu sagen ...«, erwiderte er stockend, als ihn eine fröhlich klingende Stimme mit den Worten »Was ist das denn für eine Trauergemeinde?« unterbrach.
Anna fuhr herum.
Es war Lucille. Sie nahm von jedem der beiden eine Hand und drückte sie tröstend. »Seid bitte nicht traurig!«, bat sie.
Das genügte, um Annas Dämme brechen zu lassen. Im Nu war ihr Gesicht nass vor Tränen, obwohl sie sich dafür schämte vor dieser tapferen Frau.
»Anna, ich weiß, wie dir zumute ist, aber du sollst wissen, dass ich als glücklicher Mensch die Erde verlasse. Ich habe so wunderschöne Jahre an Johns Seite erleben dürfen, und ich habe eigentlich nur noch einen einzigen Wunsch. Dann kann ich in Frieden sterben.«
Sie war ganz ruhig, während Anna von Weinkrämpfen geschüttelt wurde.
Ungerührt fuhr Lucille fort: »Ich wünsche mir von Herzen, liebe Anna, dass du John eines Tages doch noch glücklich machen wirst!«
»Aber, aber ich bin verheiratet!«, schniefte Anna und wusste im selben Augenblick, wie dumm das klang. Natürlich war sie verheiratet, und Lucille hatte das bestimmt nicht vergessen.
»Ich glaube, du kannst dich guten Gewissens von Christian trennen, wenn Klara und Timothy geheiratet haben. Ich denke, John braucht dich mehr als er und ...« Lucille machte eine Pause und stöhnte: » ... und du John!« Mit Nachdruck fügte sie hinzu: »Du hast ein Recht auf dein eigenes Leben und ein bisschen Glück. Und ein Recht auf Liebe!«
John blickte seine Frau fassungslos an. Mühsam sein Schluchzen unterdrückend, stammelte er: »Hör dir das an! So ist meine Frau. Selbstlos spricht sie vom Glück der anderen, obwohl sie weiß, dass sie unheilbar krank ist.«
»Ach, John, jetzt lass gut sein! Trocknet eure Tränen, ihr beiden! Wir müssen feiern. Glaubt ihr, ich möchte das bisschen Zeit, das mir noch bleibt, wie ein Trauerkloß verbringen? John, ich erwarte dich zum Tanz.« Mit diesen Worten schwebte Lucille lächelnd von dannen.
»Sie ist wunderbar!«, murmelte Anna.
John nickte stumm.
Das Tanzen war in vollem Gange, als Anna von ihrem Ausflug auf die Terrasse zurückkehrte, aber nichts war mehr wie vorher. Sie sah sich in ihrem eigenen Haus um, und alles, was sie erblickte, war ihr auf einmal entsetzlich fremd. Warum waren ihre Gäste so ausgelassen? Und dann die fröhliche Musik. Sollte sie rufen: Aufhören? Die Kapelle spielte gerade einen Walzer, zu dem sich die Paare schwungvoll wiegten, mittendrin Christian und Lucille. Lucille lachte, und ihre weißen Zähne blitzten. Sie versprühte Energie und beste Laune und schien vor Gesundheit nur so zu strotzen. Was war das für eine heimtückische Krankheit, die das drohende Unheil so gut verbarg?
Wie gelähmt stand Anna am Rand und beobachtete das Treiben auf der Tanzfläche. Auch Klara und Timothy wiegten sich einträchtig im Dreivierteltakt. Sie sahen einander verliebt an. Durften sie alle glücklich sein, während der Tod in ihrer Mitte tanzte und ihnen eine lange Nase machte? Anna seufzte.
»Wollen wir tanzen?«, forderte John Anna nun auf, aber die
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