Der Fluch der Maorifrau
fragte ängstlich: »Mama, was hat die unheimliche Frau gesagt?«
»Ich habe nichts gehört. Die hat nicht mit dir gesprochen«, log Anna und spürte, wie ihre Knie weich wurden.
»Und wie die mich angestarrt hat. Gruselig!« Klara schüttelte sich.
Anna atmete tief durch. Die Angst war ihr in alle Glieder gefahren. Wie lange hatte sie nicht mehr an die Maorifrau gedacht? Und jetzt empfand sie die gleiche Panik wie damals, als sie Zeugin des Fluches geworden war. Sie wusste nicht genau, was Hine gesagt hatte, aber sie hatte die Botschaft dennoch verstanden.
Anna zitterte noch immer, als sie die Princes Street erreichten, doch sie ließ sich nichts anmerken.
Sie hatten das Haus kaum betreten, als Christian ihnen entgegentrat. »Hast du ein schönes Kleid bekommen, meine kleine Fee?«, fragte er seine Tochter, die in seinen Armen wie ein Kind wirkte. Sie war in den Jahren zwar gewachsen, aber immer noch recht klein und zart. »Meine kleine Fee« nannte Christian sie oft zärtlich. Anna hatte sich in all den Jahren niemals daran gestört, aber diesmal wurde ihr übel. Sie konnte gar nicht anders, als an die Nebelfee zu denken, die ihre Tochter soeben erneut verflucht hatte.
Klara schmiegte sich vertraut an Christians Brust, während sie ihm von den neuen Einkäufen vorschwärmte.
Der Anblick versetzte Anna einen Stich. Wenn Klara wüsste, was ihr Vater dieser Maorifrau angetan hat, ob sie ihn dann auch so lieben würde?, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie eilte in ihr Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Tränen, die sie seit Jahren nicht mehr geweint hatte, bahnten sich ihren Weg. Mit aller Macht ergriff die Angst vor dem Fluch von ihr Besitz. Nicht um Christian, nicht um sich selbst, nein, allein um ihre Tochter ängstigte sie sich.
An ihrem Geburtstag hatte Klara sich zu Annas Freude in letzter Minute doch noch für das blaue Ballkleid entschieden, in dem sie wie eine Prinzessin aussah. Das weit schwingende Kleid passte perfekt zu ihrem schwarzen Haar, das sie in Locken nach hinten gesteckt hatte.
Als Paula schließlich am Nachmittag die Familie McDowell meldete, beobachtete Anna, wie ihre Tochter zart errötete, und sie hoffte inständig, dass sich in ihrem eigenen Gesicht nicht ähnlich verräterische Spuren zeigten.
Ihr Herz tat einen Sprung, als John sie zur Begrüßung herzlich umarmte. Das waren die kleinen Momente der Nähe, auf die Anna nun bald ein ganzes Jahr lang gewartet hatte. Aber auch Lucille umarmte sie voller Freude, während Timothy, der im letzten Jahr zu einem richtigen jungen Mann herangewachsen war, sich schüchtern im Hintergrund hielt.
Timothy war seinem Vater inzwischen wie aus dem Gesicht geschnitten, hatte jedoch Marys helles Haar geerbt. Er besaß ein zurückhaltenderes Wesen als John. So fröhlich er auch als Kind gewesen war, so ernst war er heute als Neunzehnjähriger.
Timothy suchte Klaras Blick, und als er ihn gefunden hatte, strahlte er vor Glück. Anna sah schnell weg. Sie fühlte sich wie eine heimliche Zuschauerin, für die dieser Beweis der Zuneigung nicht gedacht war. Die Liebe zu Klara war in Timothys Gesicht zu lesen wie in einem offenen Buch. Sosehr Anna auch hoffte, dass die beiden einmal ein Paar würden, sosehr wünschte sie sich, es möge noch eine Zeit dauern. Schließlich ging Klara noch auf die Highschool für Mädchen und würde erst einmal ihren Abschluss machen müssen. Außerdem sollte Timothy erst auf eigenen Füßen stehen. Und es gab noch einen Grund, den Anna sich nur ungern eingestand: Sie konnte sich ein Leben ohne ihre Tochter nicht vorstellen. Wenn sie allein daran dachte, dass Klara mit Timothy womöglich nach Wellington ziehen würde, krampfte sich ihr Herz vor Schmerz zusammen.
Nach dem gelungenen Essen, bei dem alle angeregt miteinander plauderten und auch Anna ihre schweren Gedanken vergaß, trat John zu Anna und nahm ihren Arm.
»Wollen wir etwas frische Luft schnappen?«, fragte er und zog sie hinaus auf die Terrasse, ohne die Antwort abzuwarten. Es war noch hell, die Vögel zwitscherten, und ein betörender Duft von Frühlingsblumen schlug ihnen entgegen. »Wie ist es dir ergangen?«, fragte er scheinbar harmlos.
»Es ist alles in Ordnung. Christian hat wieder eine Geliebte, und ich glaube, sie tut ihm gut. Ich hoffe, dass es eine Lösung geben wird, wenn Klara einmal aus dem Haus ist. Vielleicht kann ich später bei ihr und ihrem Mann wohnen. Das bringt auch Vorteile, wenn die Großmutter im Hause lebt.«
»Großmutter?«
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