Der Fluch der Maorifrau
schluchzten hemmungslos vor sich hin. Der Geistliche bemühte sich nach Kräften, das Wort »Mord« zu umschiffen; in blumigen Worten sprach er davon, dass eine »gute Ehefrau und Mutter in eine andere Welt Eingang gefunden« habe.
»Sie ist vom eigenen Ehemann brutal dahingemeuchelt worden. Warum sagt er es nicht?«, zischelte Gwen.
Beim Verlassen der Kirche erblickte Anna Jo O'Donell, den melancholischen irischen Lehrer, der Melanies älteste Tochter gegen den erbitterten Widerstand ihres Mannes unterrichtet hatte. Er sah aus wie der Tod. Anna trat auf ihn zu und raunte: »Lassen Sie uns Melanie im Herzen behalten, damit sie dort weiterleben kann.«
Dem Lehrer standen Tränen in den Augen. »Es ist nicht wahr, was die Leute sagen. Es ist nichts Unschickliches geschehen. Ich habe ihre Hand zum Trost gehalten, als sie mir sagte, dass ihr Mann das begabte Mädchen von der Schule nehmen wolle. Das war alles! Trotzdem bin ich schuldig an ihrem Tod.«
»Unsinn!«, erwiderte Anna scharf. »Schuldig ist eine Gesellschaft, in der Frauen nur die eine Aufgabe haben: ihrem Manne zu gehorchen, gleichgültig, ob der sie wie ihr Eigentum behandelt und im Rausch zu Tode prügelt.«
Anna war selbst ein wenig erschrocken über ihre harten Worte, aber Jo O'Donell nickte nur schwach und stimmte ihr kaum hörbar zu: »Das muss sich ändern. Das ist unmenschlich.«
»Das wird sich ändern!«, erwiderte Anna kämpferisch. Sie beschloss, fortan mit den Damen ihres Kreises alles zu unternehmen, um dieses Unrecht abzuschaffen.
Als Anna noch an demselben Tag die Nachricht von Lucilles Tod erreichte, hatte sie keine Tränen mehr. John teilte ihr in einem Brief mit, dass seine Frau ohne Schmerzen friedlich in seinen Armen eingeschlafen sei. Er betonte, dass Klara ein großer Trost für ihn sei. Sie war gleich nach ihrem Schulabschluss zu ihrem Verlobten nach Wellington gefahren, um ihren achtzehnten Geburtstag mit ihm zu feiern. John kündigte ihre gemeinsame Rückkehr nach Dunedin für Ende November an.
Dunedin, im November 1881
Anna hielt einen Brief ihrer Tochter in der Hand und wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Sie hatte für heute ihre Rückkehr erwartet und sich sehr darauf gefreut. Und nun diese Enttäuschung! Hatte John ihr deshalb vor ein paar Tagen geschrieben, er werde sie gleich nach seiner Ankunft in der Princes Street aufsuchen? Weil er wusste, dass sie beide allein sein würden? Ihr Herz klopfte bei dem Gedanken. Einerseits sehnte sie sich nach ihm. Andererseits empfand sie eine gewisse Scheu bei der Vorstellung, ihm nach so langer Zeit wieder unter vier Augen zu begegnen. Außerdem macht ihr Klaras Brief Sorgen. Sie hatte sich entschieden, ihrem Vater zusammen mit Timothy einen Überraschungsbesuch abzustatten. Ihrer Tochter war es nicht leicht gefallen, als ihr Vater beruflich nach Sarau hatte gehen müssen. Beruflich? Anna stöhnte auf. Nun würde sie ihren geliebten Vater mit einer anderen Frau in wilder Ehe vorfinden. Vielleicht ist es besser, wenn sie endlich die Wahrheit erfährt. Sie ist alt genug, versuchte sie sich zu trösten.
Hastig legte Anna den Brief beiseite und sah auf die Uhr, wie schon so oft an diesem Tag. Es war noch lange nicht so weit. Vor acht konnte er nicht hier sein. Und jetzt war es fünf. Anna sah nervös an sich herunter. Was hatte sie da bloß für ein Trauergewand an? Ohne zu zögern, ging sie in ihr Ankleidezimmer und kleidete sich um. Ihre Wahl fiel auf ein offenherzigeres und helleres Kleid. Prüfend betrachtete sie sich in dem Traum aus taubenblauer Seide im Spiegel. Keine Frage. Es kleidete sie wesentlich besser. Frohen Mutes schwang sie die Röcke und suchte Paula in der Küche auf. Die war bereits mit den Vorbereitungen des Lammbratens beschäftigt.
»Sie sind ein Schatz«, entfuhr es Anna lachend.
Paula musterte sie von Kopf bis Fuß. »Und Sie sehen aus, als wollten Sie zu einem Ball.«
»Sie meinen, es ist nicht das Richtige für ein kleines Abendessen?«, fragte Anna erschrocken.
Paula lächelte. »Man könnte es zu einem Fest anziehen, aber auch zu einem Essen mit John McDowell. Sie sehen bezaubernd aus. Behalten Sie es an. Unbedingt!«
Anna strahlte Paula an. »Wissen Sie was? Schon seit dem Sturz damals, als Sie mir das Leben gerettet haben, wollte ich Ihnen sagen, dass ich froh bin, dass Sie, äh, dass du hier bist.«
»Und ich bin glücklich, für dich zu arbeiten.«
Ehe sie sich versahen, umarmten sie sich. Das war der Beginn ihrer
Weitere Kostenlose Bücher