Der Fluch der Maorifrau
Letzte, was Anna sah, bevor Dunkelheit sie umfing.
Dunedin, 30. Dezember 2007
Sophie wusste nicht, wie lange sie schon regungslos mit dem Manuskript auf ihrem Bauch dagelegen hatte, als sie Jan schlechtgelaunt »Morgen!« brummeln hörte.
Mechanisch erwiderte sie seine muffige Begrüßung, aber ihre Gedanken wanderten zu Anna und John. Ob sie seinen plötzlichen Tod je verwinden würde?
»Lass uns frühstücken.« Jan klang ungehalten.
Sophie zuckte unmerklich zusammen. Sie fühlte sich ertappt. Sie war in die Vergangenheit abgetaucht und hatte seine Gegenwart völlig vergessen. Das konnte Jan auf den Tod nicht leiden. Sie hatte Mühe, sich von dem Gestern loszureißen, aber mit einem eindringlichen Blick auf Jan kam sie mental wieder in diesem Hotelzimmer und an diesem Neujahrstag an.
Er passt so gar nicht hierher, dachte sie, als sie ihn auf der Bettkante sitzen sah, ungeduldig, geschäftig, schon am Morgen wie aus dem Ei gepellt. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Sie hatte den Gedanken noch gar nicht zu Ende gedacht, als sie sich leise sagen hörte: »Jan. Ich komme nicht mit zurück. Ich bleibe hier!«
Er maß sie mit einem Blick, der ihr signalisierte, dass er sie für gestört hielt.
»Und das alles wegen einer unbedeutenden Affäre? Gut, ich verspreche dir, ich werfe die Kleine raus und werde sie niemals wiedersehen. Zufrieden?«
Sophie stöhnte. »Es ist nicht wegen Sandra Berg. Ich muss hierbleiben, bis ich das da ganz durchgelesen habe.« Damit zeigte sie auf das Manuskript.
»Ich verstehe das nicht. Was hat das Geschreibsel damit zu tun?«
»Es ist die Geschichte meiner Familie!« Sophie hoffte, Jan würde es nun gut sein lassen, aber da hatte sie sich getäuscht.
»Ja und? Wenn du die unbedingt lesen musst, dann nimm sie doch in Gottes Namen mit nach Hause.«
»Emmas Familie hat hier in dieser Stadt gelebt, in diesem Land, auf diesem Kontinent!«
»Moment mal, sagtest du nicht immer, sie stammt von dieser Hamburger Kaufmannsfamilie Wortemann ab?«
Sophie schluckte trocken. »Das stimmt, aber meine Urururgroßmutter, eine geborene Wortemann, und ihr Mann sind wohl nach Neuseeland ausgewandert.«
Jan stöhnte genervt auf. »Und wegen deiner Urur- oder Sonstwasgroßmutter meinst du, hier am Ende der Welt bleiben zu müssen, damit du das Kiwi-Land besser verstehst, oder was?«
»Nein!«, erwiderte Sophie mit klarer Stimme. »Mich. Damit ich mich besser verstehe und die Rastlosigkeit, die mich schon mein ganzes Leben lang umtreibt. Und die unbestimmte Angst, die tief in mir wohnt und die ich all die Jahre erfolgreich verdrängt habe.« Den letzten Satz hatte sie kaum hörbar geflüstert.
Jan hatte ihn dennoch verstanden. »Nun werde mal nicht albern!«, entgegnete er herablassend. »Du und Angst? Dass ich nicht lache! Du bist der vernünftigste Mensch, den ich kenne. Hör zu, der Tod deiner Mutter hat dich ein wenig aus der Bahn geworfen, und wenn du das für deine überreizten Nerven brauchst, gehst du eben ein paar Stunden zu meinem alten Freund Martin. Er ist ein hervorragender Therapeut und schuldet mir noch einen Gefallen.«
Sophie sah ihren Verlobten mit großen Augen an. »Ich bin nicht verrückt geworden, falls du das glaubst; ich spüre nur, dass ich unbedingt noch in diesem Land bleiben muss - bis sich alle Geheimnisse gelüftet haben.«
Jan zog sich nun energisch sein Jackett an. »Ich für meinen Teil frühstücke erst einmal, und du kannst inzwischen ja darüber nachdenken, was da in deinem Hirn so alles schiefläuft. Wenn du schon nicht meinetwegen zurückkommst, dann tue es wenigstens für deinen Job.«
Das traf Sophie eiskalt. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.
»Überleg es dir gut!«, drohte Jan und eilte aus dem Zimmer, nicht ohne die Tür hinter sich zuzuknallen.
Sophie blieb einfach liegen. Sie war mit einem Mal ganz ruhig, denn ihre Entscheidung war gefallen: Ich bleibe, bis ich weiß, dass ich wirklich gehen kann, dachte sie. Morgen werde ich den Direktor informieren, dass ich nach dem plötzlichen Tod meiner Mutter Sonderurlaub benötige.
Ohne zu duschen, zog Sophie sich an, bürstete flüchtig ihr Haar und folgte Jan in den Frühstücksraum. Er hatte eine Otago Daily Times vor der Nase und schien tief in die Lektüre versunken zu sein.
Ganz leise setzte sich Sophie ihm gegenüber hin und trank einen Kaffee. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass sie am Tisch saß. Er ließ die Zeitung sinken und fragte fordernd: »Und? Wie hast du dich
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