Der Fluch der Maorifrau
Kirche, um sich ihre Trauer und ihre Erinnerung an seine Zärtlichkeit auf den harten Kirchenbänken auszutreiben. Und Kate sollte gar nicht erst von dieser Versuchung kosten! Wenn sie groß ist, dürfen Frauen endlich studieren, sie wird eine der ersten Studentinnen sein und gar keine Zeit haben, an die Liebe zu denken. So sieht Kates Zukunft aus, redete sich Anna gut zu. Sie hatte keinen in ihre Pläne eingeweiht. Weder Paula noch ihre letzte überlebende Freundin, Gwen Medlicott. Ach, Christina und Mauren, die Guten!, ging es Anna durch den Kopf, wenigstens haben sie noch den Tag des Triumphes erleben dürfen, das Jahr 1893, als endlich das Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde. Einen Tag, den Anna niemals vergessen würde. Wie schmerzlich hatte sie bei dem Freudenfest ihre Klara vermisst!
Hastig wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Kate hatte sie niemals weinen sehen, und das sollte auch so bleiben. Ihre Gedanken schweiften zu ihrem morgendlichen Kirchgang. Die inzwischen verhutzelte Emily Brown und ihre böse alte Schwester hatten unverschämt zu ihr hinübergestarrt und mit dem Finger auf sie gezeigt. Im Grunde genommen störte es sie nicht, aber sie wurde den Eindruck nicht los, dass die beiden etwas wussten, was sie betraf.
Eine furchtsam raunende Mädchenstimme riss Anna aus ihren Gedanken. »Sie sieht aus wie eine alte Krähe. Fürchtest du dich nicht vor ihr?«
Aus den Augenwinkeln beobachtete Anna, wie ihre Enkelin auf das Mädchen zuschoss. »Nein! Großmutter ist der liebste Mensch auf der ganzen Welt. Sie hat nur viel Pech im Leben gehabt. Großvater hat sie verlassen und dann der Unfall meiner Eltern ... Wenn du das noch mal sagst, bist du nicht mehr meine Freundin!«
Anna lächelte still in sich hinein. Typisch Kate! Ihre Enkelin würde sich niemals ein Unrecht gefallen lassen, doch sofort wurde Anna wieder ernst. Unfall?, dachte sie verbittert, aber was hätte ich dem armen Kind denn sagen sollen? Deine Mutter ist gestorben, damit du leben kannst, und dein Vater hat sich aus Kummer über den Tod deiner Mutter aufgehängt, ohne dir einen einzigen Blick zu gönnen? Nein, das durfte Kate nie erfahren. Und auch von dem Fluch würde sie ihr niemals erzählen.
In diesem Augenblick kam Paula in Begleitung zweier fremder Herren herbeigeschlurft. »Sie ließen sich nicht abwimmeln!«, brummelte sie entschuldigend.
»Nehmen Sie Platz!« Anna deutete auf die beiden ebenso zerschlissene Sessel wie den ihren.
Paula zog sich wortlos zurück.
»Sie wünschen?«, fragte Anna in strengem Ton, während ihr Blick prüfend von einem zum anderen ging.
Der Jüngere war gut gekleidet und kam ihr seltsam bekannt vor. Er hatte schwarzes Haar, kantige Gesichtszüge und war schätzungsweise Mitte dreißig. Der alte Mann hingegen - sie schätzte ihn auf weit über siebzig - wirkte ungepflegt. Er war aufgeschwemmt und hatte ein auffallend rotes Gesicht. Vom Alkohol, schoss es Anna durch den Kopf.
In den Blicken der beiden Männer lag etwas Lauerndes. Etwas Hinterhältiges, das Anna zutiefst missfiel.
Schließlich ergriff der Jüngere das Wort. »Sie scheinen nicht zu wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Dann werden wir Ihnen ein wenig auf die Sprünge helfen. Das ist mein Vater Philipp McLean. Mein Name ist ...«
Er zögerte, aber Anna murmelte: »Paul, dann sind Sie Paul!«
Während sie das sagte, zitterte sie am ganzen Körper. Die Erinnerung an Melanies schrecklichen Tod fuhr ihr durch alle Glieder, und sie fragte sich, warum sich ihr Mörder erdreistete, sie aufzusuchen. Sie erinnerte sich an den Skandal und die öffentliche Empörung, als man ihn schon nach knapp zwei Jahren aus dem Gefängnis entließ.
»Was wollen Sie?«, fragte Anna in scharfem Ton.
»Noch genau die alte Suffragette wie damals!«, höhnte der Alte, und Anna wich zurück. Sein Atem war alkoholgeschwängert.
»Da können Sie mal sehen, was Ihr Einfluss auf meine Mutter damals alles angerichtet hat! Wegen Ihnen und diesen Weibern hat er mit dem Trinken angefangen«, knurrte Paul.
»Sie verwechseln da etwas, Paul!«, konterte Anna spitz. »Ihr Vater hat schon vorher getrunken und Ihre Mutter misshandelt, bevor er sie im Suff umgebracht hat. Und dass ich mich ihr unzüchtig genähert haben soll, ist eine widerliche infame Verleumdung, und das weiß Ihr Vater ganz genau! Und Sie wissen es auch! Es missfällt mir außerordentlich, dass er auf freiem Fuß ist! Ich hätte ihn gern ein Leben lang hinter Gitter gesehen. Aber, wie
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