Der Fluch der Maorifrau
zugeschickt. Hart und unversöhnlich erklärte er darin, Timothy habe in seinem Abschiedsbrief nur verfügt, sie solle sein Geld erben, das Haus aber stehe ihm zu. Er, Albert, sei der rechtmäßige Erbe des Hauses, weil er der nächste Verwandte sei, nicht sie. Wäre ihre Tochter nach seinem Neffen gestorben, wäre es andersrum gewesen. Anna hatte das Schreiben damals lautlos zerrissen. Sie wollte den Tod ihrer Kinder nicht zu einem juristischen Streitpunkt werden lassen. Soll Albert mit dem Haus glücklich werden!, hatte sie damals gedacht. Und ganz ähnlich dachte sie auch heute. Sie wollte nichts mit den McLeans zu tun haben, nicht einmal einen Rechtsstreit gegen sie führen.
Anna hatte all die Jahre kräftig sparen müssen, aber da sie sich nichts gönnte, hatte sie es geschafft, Kate, Paula und sich auch ohne das Haus über die Runden zu bringen.
»Aber, wo sollen wir bloß hin? Ich denke, du hast gesagt, es ist nun kein Geld mehr übrig von Timothys Erbe«, lamentierte Paula.
»Mir wird schon etwas einfallen!«, versprach Anna der Freundin und zog sich an diesem Abend früh zum Nachdenken in ihr Zimmer zurück. Seit Kates Geburt hatte Anna stets ein wenig für ihre Ausbildung beiseitegelegt, aber das würde sie nicht anrühren. Nicht einmal jetzt, in der allergrößten Not!
Noch in derselben Nacht verfasste Anna einen Brief an Cousin Rasmus Wortemann, den Sohn ihres längst verstorbenen Onkels. Sie schilderte ihm, dass sie und ihre Enkelin völlig mittellos seien, und bat ihn, das Geld für drei Tickets nach Hamburg zu schicken. Natürlich würde sie Paula vorher fragen müssen, ob sie mit ihnen ins ferne Deutschland ziehen wolle, aber wo sollte sie sonst hin? Anna verkniff sich in diesem Schreiben zu erwähnen, dass sie inzwischen Witwe war. Was ging das ihren Neffen an?
Anna schrieb diesen Brief, ohne eine Träne zu vergießen. Die Hauptsache war doch, Kate würde eine Zukunft haben. Und so geistreich, wie dieses Kind war, sollte die wohl gesichert sein. Deutsch würde sie ihr schon beibringen. Wie sie neulich in der Zeitung gelesen hatte, gab es in Deutschland bereits eine Universität, die Frauen zum Studium zuließ. Ich werde noch einmal in meinem Leben die Elbe sehen, dachte Anna und schlief in dieser Nacht mit dem tröstenden Gedanken an Hamburg ein.
Nach dem Aufwachen suchte Anna einen Umschlag für das Schreiben und stieß dabei auf ihr altes Tagebuch, dem sie zuletzt an Klaras Todestag ihre Gedanken anvertraut hatte. Sie verspürte den starken Impuls, es zu vernichten, nun, da Christian tot war und es außer ihr keinen Menschen mehr gab, der von der Geschichte mit dem Fluch wusste. Sie nahm den Lederband vorsichtig zur Hand und schlug ihn auf, um ihn mit hochrotem Kopf sofort wieder zur Seite zu legen. Sie war ausgerechnet an die Stelle geraten, in der sie ausführlich schilderte, wie sie sich einst John hingegeben hatte! Rasch schlug sie die Seiten wieder zu und legte das Buch in eine Kiste mit Eisenbeschlägen - ein Nachbau einer barocken Truhe -, die Melanie ihr einst geschenkt hatte.
Ich bringe es nicht über das Herz, es wegzuwerfen, stellte Anna bedauernd fest. Aber noch vor meinem Tod muss es verschwinden, beschloss sie, damit die Nachwelt nicht erfährt, was für eine Schuld Christian auf sich geladen hat, für die ich büßen muss. Ich werde es vor meinem Tod in der Elbe versenken!
Die Antwort ihres Cousins ließ monatelang auf sich warten. Anna wurde zunehmend unruhig und befürchtete schon, dass sie nie wieder etwas von ihrer Verwandtschaft hören würde. Doch dann erreichte sie eines Tages ein dürres Schreiben, das sie trotz des Gleichmuts, den sie in den letzten Jahren entwickelt hatte, vollkommen aus der Fassung brachte. Ihr Vetter Rasmus schickte sie auf einen Weg, den sie niemals in Erwägung gezogen hätte und der sie aller Wurzeln berauben würde. Die Order lautete:
Liebe Kusine,
in Hamburg ist kein Platz für euch! Brauchen Christian dringend auf Samoa. Mein Bruder Hans ist tot. Wir wollen das dortige Handelshaus unbedingt erhalten, wo doch bald unsere vaterländische Fahne über Samoa wehen wird. Haben mit Kokosplantagen und mit Kakaoanbau angefangen, Christian soll Leitung übernehmen. Euer Schiff, die Manapouri, fährt am 20. Februar von Auckland ab. Nicht verpassen, weil bis November keine Dampfschiffe dorthin unterwegs. In Apia holt euch Otto Brenner, ein treuer Mitarbeiter von Bruder Hans, ab, der deinem Mann hilfreich zur Seite stehen wird.
Gute
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