Der Fluch der Schriftrollen
das nicht alles erlitten, nur um am Schluß so
hängengelassen zu werden! Das ist nicht fair! Das ist einfach nicht fair!« Kurz
nach Mitternacht sank er erschöpft aufs Bett und verbrachte die Nacht in einer
Art Dämmerzustand. Er hatte jeden Bezug zur Realität verloren. Unruhig warf er
sich hin und her und kämpfte mit einer Abfolge von Alpträumen und
Wahnvorstellungen. Die darin auftretenden Personen waren altvertraut: Rosa
Messer, Solomon Liebowitz, David und Saul und Sara. Zweimal stand er auf und
streifte, ohne sich dessen bewußt zu sein, durch die Wohnung, auf der Suche
nach etwas, von dem er nicht wußte, was es war. Die dunklen Schatten
verkörperten für ihn das Böse und das Entsetzen, die kalten, leeren Zimmer
waren die Jahre seines Lebens. Wenn er sprach, so war es entweder auf Jiddisch,
Aramäisch oder Hebräisch.
Das Gesicht zu einem
hämischen Grinsen verzerrt, krümmte und wand er sich auf dem Bett, während an
seinem Körper kleine Bäche von Schweiß herunterrannen. Oft waren seine Augen
weit geöffnet, aber er vermochte nicht zu sehen. Oder wenn er sah, so waren es
Bilder, die einer anderen Zeit angehörten. Nazaräer, die sich in einem
niedrigen Raum versammelten, um auf die Rückkehr ihres Messias zu warten. Rosa
Messer, die zum Sabbat eine schwache Glühlampe brennen ließ, während das übrige
Haus traurig und bedrückend wirkte. Solomon Liebowitz, der sich an der
rabbinischen Hochschule einschrieb. David Ben Jona, der oben auf dem Hügel
stand und auf Sara wartete.
Als die Morgendämmerung
anbrach und Tageslicht in die Wohnung fiel, das die Schatten und die Dunkelheit
zerstreute, fühlte sich Ben, als hätte er hundert Folterqualen durchlebt. Jeder
Muskel seines Körpers schmerzte. Er hatte blaue Flecken an Armen und Beinen. Er
entdeckte, daß er sich im Bett übergeben hatte und in seinem Erbrochenen liegen
geblieben war.
Während er sich mühsam
herumschleppte und schwer atmete, zwang sich Ben, seiner Wohnung wieder den
Anschein einer gewissen Ordnung zu geben. Er hatte eine vage Vorstellung von
dem, was er während der Nacht durchgemacht hatte. Winzige Bruchstücke der
Alpträume blitzten in seinem Gedächtnis auf, und er wußte, warum es geschehen
war.
»Es kann jetzt nicht mehr
aufgehalten werden«, murmelte er vor sich hin, als er das Bett frisch bezog.
»Wenn ich weiter dagegen ankämpfe, wird es mich umbringen, und eines Morgens
werde ich tot aufwachen. Warum gebe ich nicht einfach nach und erspare mir
damit den Schmerz und die Angst?«
Er sprach mehr im Interesse
von David als in seinem eigenen, denn er wollte dem Juden mitteilen, zu welchem
Schluß er gekommen war. »Ich bin dir nicht gewachsen«, gestand Ben. »Da du
unsterblich bist, hast du Kräfte, die ich nicht bekämpfen kann. Wie etwa die
Fähigkeit, meine Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken. Du warst es die
ganze Zeit über, nicht wahr? Du hast mich dazu gebracht, mich zu erinnern.
Sogar noch bevor du dich zeigtest, hast du die kleinen, unabwendbaren Greuel in
mein Gedächtnis gepflanzt. Gott, bist du vielleicht heimtückisch, David Ben
Jona!«
Danach beschloß Ben, einen
Spaziergang zu machen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Der graue
Morgen in West Los Angeles war kalt und schneidend. Trotzdem trug Ben keine
Jacke, denn als er hinaustrat und auf dem Gehsteig stand, wandelte er in
Gedanken auf einem staubigen Pfad, der sich zwischen alten Olivenbäumen
hindurchschlängelte. Die Luft war warm und schwer, voller Staub und summenden
Fliegen. Er fühlte sich wohl, weil der Pfad in die Stadt führte und weil er in
der Stadt Ablenkung finden würde. Als er den Wilshire Boulevard hinunterlief,
nickte Ben den Passanten, denen er begegnete, freundlich zu: Bauern auf dem Weg
zum Marktplatz, Schriftgelehrte, die zum Tempel gingen, römische Soldaten, die
immer zu zweit durch die Straßen patrouillierten, Gruppen von Kindern auf dem
Schulweg. Hin und wieder blieb er stehen, um die Arbeiten von Kunsthandwerkern
zu bewundern, die ihrem Broterwerb in überfüllten Werkstätten nachgingen, die
sich nach der engen Straße öffneten. Er trat zur Seite, um die Sänfte eines
wohlhabenden Bürgers durchzulassen. Es war ein so gutes Gefühl, die Stadt
völlig unbeschwert nach Herzenslust zu durchwandern, auf einem Brunnenrand zu
sitzen, Brot und Käse zu essen und die Waren eines Stoffhändlers nach einem kleinen
Geschenk für Rebekka durchzusehen. Sein Anwesen war nun groß, und er hatte sein
Geld auch weiterhin mit
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