Der Fluch der Schriftrollen
ist.«
»Warum? Für was halten Sie
mich eigentlich, Dr. Messer, für eine strenggläubige Jüdin?«
Ben starrte sie eine Sekunde
lang an, dann warf er seinen Kopf zurück und lachte. Seltsamerweise entsprach
dies genau seinem Eindruck von Judy Golden – der Tochter Israels, der glühenden
Zionistin. »Ich bin nicht einmal eine orthodoxe Jüdin«, fügte sie belustigt
hinzu. »Tut mir leid, Sie zu enttäuschen. Ich koche am Sabbat.«
»Ach wirklich?« Er rief sich
die samstäglichen Rituale und Beschränkungen ins Gedächtnis zurück. Heute
konnte er darüber lächeln. Schon seit langem hatte er nicht mehr an diese so
lange zurückliegenden trostlosen Sabbate gedacht. Und seltsam genug, jetzt, da
er vor Judy Golden saß, wurde ihm erst bewußt, daß ihm die Worte »ich bin Jude«
seit dreiundzwanzig Jahren wieder zum ersten Mal über die Lippen gekommen
waren, als er sich vor zwei Tagen mit ihr unterhalten hatte. Damals hatte es
ihn nicht überrascht, doch jetzt, in der Gegenwart dieses Mädchens, verwirrte
es ihn. »Die Kopten sind eine interessante Gruppe«, hörte er sich selbst sagen.
»Sie führen ihre Kirche auf den heiligen Markus zurück und haben dem gewaltigen
Druck des Islam bis heute standgehalten. Ihr Museum im Süden Kairos ist ganz
einzigartig.«
»Das kann ich mir
vorstellen.«
Seine Pfeife ging langsam
aus. Daher klopfte er sie in dem billigen Glasaschenbecher auf seinem
Schreibtisch aus. »Zufällig bin ich übrigens gerade dabei, einen erst kürzlich
gefundenen Kodex aus der Gegend von Alexandria zu übersetzen. Man hat ihn in
einem alten, verlassenen Kloster entdeckt, das wohl im sechzehnten oder
siebzehnten Jahrhundert zum letzten Mal bewohnt war.«
»Wirklich?«
»Ich werde Ihnen diesen Kodex
gerne einmal zeigen.«
»Oh, das wäre einfach…«
»Ich versuche, daran zu
denken, ihn mitzubringen. Vielleicht nächste Woche.« Er schielte auf seine
Armbanduhr. Um diese Zeit war die Post sicher schon da gewesen. Er wollte nach
Hause. Es könnte ja etwas von Weatherby dabeisein, vielleicht eine weitere
Schriftrolle… »Es ist nicht das Original, verstehen Sie, aber eine qualitativ
gute Fotoablichtung. Die Urschrift wird in Kairo aufbewahrt. Wenn Sie mich
jetzt entschuldigen…«
Ein lautes Krachen ertönte
aus dem offenen Kamin, ein paar Funken flogen, und Ben kehrte in die Gegenwart
zurück. Angie war aufgestanden und bürstete sich vor dem Spiegel die Haare. Er
beobachtete sie dabei, während ihr bronzefarbenes Haar den Schein des Feuers
widerspiegelte. Sie waren übereingekommen, zwischen zwei Semestern zu heiraten,
und bis dahin lagen noch viele Wochen vor ihnen. Sie wollte ihre Einrichtung
verkaufen und in seine Wohnung ziehen. Der einzige Grund, weshalb sie nicht
schon jetzt zusammenlebten, war seine Arbeit. Dafür brauchte er
Zurückgezogenheit, Ruhe und Einsamkeit.
»Vielleicht bekommst du ja
morgen etwas«, tröstete sie ihn, als sie sein Gesicht hinter sich im Spiegel
sah.
»Hoffentlich.« An diesem
Nachmittag war er gleich im Anschluß an sein kurzes Gespräch mit Judy Golden nach
Hause geeilt und hatte dort nur einen gähnend leeren Briefkasten vorgefunden.
»Die nächste Rolle könnte möglicherweise noch weltbewegender sein.« Ben fühlte,
wie sich seine Stirn in Falten legte. Inwiefern würde sich sein Leben durch die
Heirat ändern? Wie konnten sie sich einigen, damit ihm seine gewohnte
Privatsphäre auch dann erhalten bliebe, wenn Angie einzog? Sie hatte zwar
versprochen, ihn nicht bei der Arbeit zu stören und nicht in sein Zimmer zu
kommen, während er übersetzte. Und dennoch wurde er an Abenden wie diesem von
winzigen Zweifeln beschlichen. Angie bestand darauf, ins Kino zu gehen. Es
geschehe zu seinem eigenen Besten, meinte sie, wenn sie ihn dazu bringen
konnte, sich ein wenig zu entspannen und seine Schriftrollen zu vergessen. Aber
Ben war sich nicht sicher, ob er das wirklich wollte.
Am Montagmorgen fühlte er
sich endlich wieder normal. Übers Wochenende hatte er viel Zeit allein
verbracht und nachgedacht. Das hatte ihm geholfen, die Dinge wieder etwas
klarer zu sehen. Schließlich war er Wissenschaftler und kein Romantiker. Nur
weil die ersten drei Fragmente in einem so guten Zustand gewesen waren und
solchen Zündstoff geboten hatten, hieß das noch lange nicht, daß das übrige
Material aus dem Versteck in den Ruinen von Migdal ebenso ergiebig war. Er
mußte sich auf eine Enttäuschung gefaßt machen und seine Hoffnungen nicht noch
höher schrauben. Den ganzen
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