Der Fluch der Schriftrollen
›Vergiß es für ein Weilchen.‹ ›Mach dich davon frei.‹ Ist es dir
je in den Sinn gekommen, daß ich mich vielleicht gerne damit beschäftige?«
»Ich verstehe«, antwortete
sie ruhig.
»Nein, das tust du nicht. Und
ich mache dir deswegen auch keine Vorwürfe. Ich will nur allein sein.«
»Ich werde dich nicht
stören.«
Er wandte sich von ihr ab und
tat so, als ob er den Thermostat kontrollierte. »Es ist kalt hier drinnen«,
stellte er ruhig fest. Doch, du wirst mich stören. Du kannst ja nicht länger
als fünf Minuten sitzen bleiben, ohne dich zu unterhalten.
Ben drehte sich zu Angie um.
Sie saß auf der Couch, ganz das elegante Model aus den Werbeaufnahmen in den
Hochglanzzeitschriften, ihre hohen Backenknochen rot geschminkt, ihre Lippen
und ihre spitzen Fingernägel blutrot. Wie seltsam, daß ihm gerade jetzt diese
Dinge auffielen, die er vorher nie bemerkt hatte. Dies alles war doch greifbare
Wirklichkeit. Diese schöne Frau mit dem Kameengesicht und dem wilden,
kastanienbraunen Haar, die da gelassen auf der Couch saß, war der Traum eines
jeden Mannes. Sie lachte viel, kleidete sich geschmackvoll, hatte einen
anschmiegsamen Körper und verstand es, sich jederzeit angeregt zu unterhalten.
Ben hatte es immer genossen, daß andere Männer ihr nachschauten, wo immer sie
auch hingingen. Angie am Arm war wie eine Medaille am Revers. Doch als er sie
jetzt anschaute – und irgendwie war es, als sähe er sie zum erstenmal –, kamen
Ben Gedanken, die ihm völlig neu waren. »Ich werde dich nicht stören«,
beteuerte Angie. »Und was willst du tun? Während ich im Dunkeln sitze und
Bachmusik höre, was willst du tun?«
»O Ben!« Sie sah ihn
beunruhigt an. »Also gut, ich gehe. Wenn es das ist, was du wirklich willst.
Ich komme morgen früh wieder. Okay?« Sie nahm ihren Handkoffer an sich. »Und
bitte, leg den Hörer nicht neben das Telefon. Du hast es gestern abend wieder
getan, nicht wahr, denn immer, wenn ich es probiert habe, hörte ich nur das
Besetztzeichen.«
»Ich werde es nicht wieder
tun.«
Vor der geöffneten
Wohnungstür zögerte sie, als sei sie sich unschlüssig, was sie als nächstes
sagen sollte. »Ich halte die Rollen wirklich für interessant, Ben.«
»Gut.«
»Aber du darfst nicht
vergessen, daß ich mit jüdischen Dingen nicht vertraut bin.«
»Bist du mit mir etwa nicht
vertraut?«
»Benjamin Messer!« Angie war
aufrichtig überrascht. »Das ist das erste Mal, daß du zugibst, Jude zu sein!
Gewöhnlich versuchst du mit allen Mitteln, es zu leugnen.«
»Nicht zu leugnen, mein
Schatz. Ich versuche lediglich, es zu vergessen. Da ist ein Unterschied.«
Ben lief den Rest des
Vormittags und den ganzen Nachmittag ziellos durch die Wohnung. Er erinnerte
sich daran, Poppäa zu füttern. Fand einige Wörter im Los Angeles Times- Kreuzworträtsel
heraus. Hörte ein paar Platten, stopfte ein Käsebrot in sich hinein und ging
wieder auf und ab. Der Postbote mußte jetzt bald kommen. Er hatte fast ein
ganzes Paket Pfeifentabak verbraucht, als er sich um Punkt vier Uhr entschloß,
zu den Briefkästen hinunterzugehen. Er hatte auf das Klopfen an der Tür
gewartet, denn für eine Einschreibesendung mußte er ja eine Unterschrift
leisten. Da sich aber bis jetzt noch nichts getan hatte, fragte er sich, ob der
Briefträger wohl schon dagewesen war. Er war dagewesen.
In den anderen Briefkästen
lag Post, in seinem eigenen eine Gasrechnung und im Zeitungskasten neue
Zeitschriften. Doch kein kleiner gelber Zettel.
Ben bemerkte erst in diesem
Augenblick, mit welcher Begierde er die fünfte Rolle erwartet hatte. Und jetzt
war er buchstäblich am Boden zerstört. Während ein leichter Regen von einem
grauen Himmel herabfiel und die Gehsteige von West Los Angeles sauber wusch,
stand Ben da wie ein Schwachsinniger und glotzte die Briefkästen an. Es gab
nichts Schlimmeres in der Welt, als seine ganzen Hoffnungen auf etwas zu setzen
und es dann nicht zu bekommen. Ihm war zum Heulen zumute.
»Ich halte das nicht länger
aus«, murmelte er immer wieder, während er zu seiner Wohnung hinaufstieg. Warum
kamen die Rollen nicht schneller? Warum wurde ihm diese quälende Zeit des
Wartens auferlegt?
Oben angelangt, drehte Ben
die Heizung noch mehr auf, schenkte sich ein Glas Wein ein und ließ sich auf
dem Sofa nieder. Im Handumdrehen war Poppäa auf seinem Schoß. Sie schnurrte und
tapste auf seinem Bauch herum, als wollte sie ihm ihre Freude über seine
Gesellschaft kundtun.
»Ich weiß nicht, was in
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