Der Fluch der Schriftrollen
sie sich an
ihm vorbei und lief ins Wohnzimmer. »Es war niemals so, Ben«, fuhr sie mit
fester Stimme fort. »Früher hast du immer Zeit für mich gefunden, ganz egal wie
wichtig ein Auftrag war. Aber die Dinge liegen nun anders. Du bist anders.
Warum bist du mit einemmal so…verändert?« Er streckte hilfesuchend die Hände
aus.
Ja, dachte Angie nun
sachlich, Ben hatte sich verändert. Wo war nur der ausgeglichene, berechenbare
Ben, den sie bis dahin gekannt hatte? Statt dessen sah sie einen seltsam
irrationalen Menschen vor sich, der ständig zwischen zwei Persönlichkeiten
schwankte. Und es schien, als wäre er sich dessen nicht einmal bewußt, als
hätte er keine Gewalt mehr über sich.
Ganz so, als würde er von
irgend jemandem beeinflußt. Sie sah ihn aus schmalen Augen durchdringend an.
Was war neben seinem sprunghaften Wesen noch anders an ihm? Welche äußerlichen
Veränderungen hatte er durchgemacht? Oh, gewiß, sie waren ihr schon vorher
aufgefallen, doch sie hatte geflissentlich darüber hinweggesehen, sie einfach
nicht beachtet. Diesmal aber musterte sie Ben mit anderen Augen und stellte die
leichten Veränderungen fest, die sich allmählich an ihm vollzogen hatten.
Die plötzliche Vorliebe für
Sandalen. Das Hinken in seinem Gang. Seine geschraubten Sätze. Die Tatsache,
daß er sich anhörte wie ein Fremder, der sich alle Mühe gab, richtig zu
sprechen. Nichts von alledem hatte vor dem Auftauchen der Schriftrollen zu Ben
Messer gehört.
Sie schlenderte hinüber zur
Couch und sah die darauf ausgebreiteten Seiten seiner Übersetzung. »Ist es eine
gute Rolle?« fragte sie ruhig.
»Ja, und eine lange. Möchtest
du sie lesen?«
Sie fuhr herum. Auf ihrem
Gesicht zeigte sich Ärger. »Was ist so besonders an diesem David, daß er dir
mehr bedeutet als ich?«
»Das tut er nicht, Angie.«
»O doch, Ben!« Ihre Stimme
wurde lauter. »Seinetwegen vergißt du mich! Du verbringst deine Zeit lieber mit
ihm als mit mir.« Sie wurde schrill. »Irgendein alter, toter Jude hat dich
plötzlich so…«
»Lieber Gott, Angie!« schrie
Ben.
»Und sag bloß das nicht!
Warum nennst du unnütz den Namen von jemandem, an den du nicht einmal glaubst?«
»Du glaubst ja auch nicht an
ihn, Angie.«
»Was weißt du schon davon?«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Woher willst du das wissen? Hast du mich
je danach gefragt? Haben wir je über Gott oder Jesus oder Glaubensdinge
geredet?«
»Na wunderbar, das ist jetzt
der richtige Moment, um theologische Probleme aufs Tapet zu bringen!«
»Warum auch nicht? Kein
anderer Zeitpunkt war dir je gut genug. Irgendwie ist es dir immer gelungen,
dem Thema aus dem Weg zu gehen, als hättest du in Sachen Religion eine
Monopolstellung. Ich weiß, daß du ein Atheist bist, Ben, aber das heißt noch
lange nicht, daß es alle anderen auch sind.«
»In Gottes Namen, Angie! Was
zum Teufel hat das alles mit dem heutigen Vormittag zu tun?«
Sie schaute wieder auf die
Couch hinab, und plötzlich legte sich ihr Ärger. Ein seltsamer Ausdruck huschte
über ihr Gesicht, als sie auf die überall verstreuten Papiere blickte. »Ich
weiß nicht, Ben«, meinte sie in sanftem Ton, »aber da besteht ein Zusammenhang.
Ich weiß wirklich nicht, was hier vor sich geht, aber es geht um mehr als nur
um einen archäologischen Fund. Ich kann es nicht genau bestimmen. Ich kann es
nicht einmal in Worte fassen, aber ich bekomme ein ganz merkwürdiges Gefühl
dabei. Als ob…« Sie blickte endlich zu ihm auf. »Als ob du langsam von David
Ben Jona besessen wärst.«
Ben starrte sie einen
Augenblick lang an, dann rang er sich ein nervöses Lachen ab.
»Das ist doch lächerlich, das
weißt du genau.«
»Ich weiß nicht…«
»Hör zu, Angie«, er streckte
wieder seine Hände aus, »ich bin müde. Ich bin so erbärmlich müde. Können wir
es für heute nicht einfach vergessen?« Er massierte sich zerstreut die linke
Schulter. »Und ich bin ganz steif. Ich habe die ganze Zeit Wasser geschleppt
für die… ich meine, ich mußte doppelt so schnell laufen und doppelt soviel
tragen…« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine…«
»Ben! Was stimmt denn nicht
mit dir?«
»Verdammt noch mal, Angie,
ich bin müde, das ist alles! Ich hatte überhaupt keinen Schlaf! Ich will jetzt
nur meine Ruhe haben!«
»Aber wie konntest du mich so
völlig vergessen?« O Gott, dachte er, während er sich mit den Händen das
Gesicht rieb, ich kann mich nicht einmal an letzte Nacht erinnern! Ich erinnere
mich nicht
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