Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fluch der Schriftrollen

Der Fluch der Schriftrollen

Titel: Der Fluch der Schriftrollen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
Vom Netzwerk:
wieder ein, wie er vor
zweiundzwanzig Jahren, als seine Mutter ihm zum erstenmal die Wahrheit über den
Tod seines Vaters erzählt hatte, von denselben Alpträumen heimgesucht worden
war. Sie waren nie genau gleich, lediglich in diesem einen Punkt, dem Gefühl,
daß sich etwas unter seinen Füßen bewegte. Er war viele Male tränenüberströmt
und schweißgebadet aufgewacht und hatte sogar gelegentlich im Schlaf geschrien.
Doch nicht nur der schreckliche Tod seines Vaters hatte Ben die Kindheit zum
Greuel gemacht. Verantwortlich dafür waren auch die anderen Erzählungen seiner
Mutter von ihren Erlebnissen im Konzentrationslager, mit denen sie ihr Kind
belastet hatte. Die langen Abende, an denen er ihren Geschichten lauschte, sich
die Greueltaten ausmalte und seine Mutter stundenlang ununterbrochen weinen
sah; all dies hatte die Kindheit für Ben Messer zur Trübsal werden lassen, so
sehr, daß er sich wünschte, nie als Jude geboren worden zu sein.
    Das letzte Mal, als er sich
über seinen Vater oder Majdanek Gedanken gemacht hatte, war auch das letzte Mal
gewesen, da er mit Salomon Liebowitz zusammengesessen und geredet hatte. Damals
war er neunzehn Jahre alt gewesen, und danach hatte er nie wieder geweint.
    Ben griff nach den
verstreuten Seiten seiner Übersetzung und versuchte, sie in die richtige
Reihenfolge zu bringen. Es hatte ihm wehgetan, von Salomon Abschied zu nehmen,
denn Salomon war das einzige Glück seiner Jugend gewesen. Ein Freund, den er
liebte, dem er sich anvertraute und auf den er angewiesen war. Aber
gleichzeitig wußte Ben, daß er dem Umfeld seiner Kindheit entfliehen mußte, um
in einer veränderten Umgebung einen neuen Anfang zu machen. Die alten Straßen
von Brooklyn waren voller Erinnerungen. Er mußte ihnen entkommen.
    Seine Übersetzung der fünften
Rolle war lang – bis dahin war es die längste Rolle – und daher ziemlich
unordentlich. Zeilen waren durchgestrichen. Einige Wörter hatte er
durchgestrichen und verbessert. Randbemerkungen waren in den Text
hineingeschrieben. Und stellenweise stieß er auf seine völlig unleserliche
Handschrift. Ben schaute zum Telefon, dann auf die Uhr. Es war sechs Uhr
dreißig. Er fragte sich, ob Judy Golden wohl zu Hause war.
     
     
    Sie war wieder durchnäßt, und
trotzdem lächelte sie verschmitzt. »Es tut mir gut«, meinte sie, als sie ihren
Pullover zum Trocknen aufhängte. »Ich könnte näher am Haus parken, aber ich
laufe gerne durch den Regen.«
    Judy trug wieder Jeans und
ein T-Shirt. Ihr Haar war feucht und klebte ihr am Kopf und verlieh ihr das
Aussehen eines nassen Kätzchens. »Danke, daß Sie alles stehen und liegen
gelassen haben und gekommen sind«, sagte Ben.
    »Ich mußte gar nichts stehen
und liegen lassen. Ich bin gespannt, die Rolle zu lesen. Und Sie sagen, es sei
bisher die längste?« Sie gingen ins Wohnzimmer, wo alle Lichter brannten und es
wohlig warm war. Gegen die regnerische Nacht war es eine sehr behagliche
Atmosphäre.
    »Diesmal habe ich richtigen
Kaffee für uns zubereitet«, verkündete er auf dem Weg in die Küche. Judy sank
auf die Couch und schleuderte ihre Stiefel von sich. Dann zog sie die Knie an
und schlang die Arme um die Beine. Ben Messers Wohnung war gemütlich, überhaupt
nicht zu vergleichen mit ihrer eigenen, die unordentlich und unaufgeräumt war
und von einem riesigen Hund bewohnt wurde, der noch dazu schnarchte. Judy hatte
laute Nachbarn zu beiden Seiten, und in der Wohnung über ihr lebte, nach dem
Getrampel zu schließen, ein zehnfüßiges Ungeheuer. Sie hatte selten den Frieden
und die Ruhe, die Ben zu Hause genießen konnte.
    Er kam mit dem Kaffee herein
und setzte ihn auf dem niedrigen Tisch ab. Als er neben ihr Platz genommen
hatte, deutete er auf den Stoß Papier neben dem Tablett und erklärte: »Rolle
Nummer fünf. In all ihrer unleserlichen Pracht.«
    Sie grinste. »Wissen Sie, als
ich letzte Nacht wegging, stand ich im Eingang Ihres Arbeitszimmers und
beobachtete Sie am Schreibtisch. Mann, haben Sie sich vielleicht konzentriert!
Ich räusperte mich ein paarmal, und Sie hörten mich nicht einmal. Und Ihre Hand
schrieb mit einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern! Es muß eine
spannende Rolle sein.«
    »Lesen Sie selbst.«
    Mit der Kaffeetasse in einer
Hand und den Blättern auf ihrem Schoß begann Judy, Rolle Nummer fünf zu lesen.
    Lange Zeit vernahm man nichts
als den heftigen Regen, der gegen die Fenster klatschte. Gelegentlich konnte
man hören, wie sich das Heizgerät an-

Weitere Kostenlose Bücher