Der Fluch der Schriftrollen
durch
ihre Frage unliebsam überrascht. »Junge, Junge, Sie scheuen sich wohl überhaupt
nicht davor, persönliche Fragen zu stellen, oder? Sind Sie Atheistin?«
»Ganz und gar nicht. Ich
hänge dem Judentum auf meine eigene Weise, an.«
»Ein Judentum nach Ihrem
eigenen Gutdünken.«
»Wenn Sie so wollen…«
»Ja, ich bin Atheist.
Überrascht Sie das?«
»In gewisser Weise schon. Nur
weil es mir sonderbar vorkommt, daß Sie Ihr Leben dem Studium religiöser
Schriften widmen, ohne selbst religiös zu sein.«
»Großer Gott, Judy, man muß
doch wohl kein Grashüpfer sein, um Insektenkunde zu studieren!«
Sie lachte. »Das ist wahr.
Aber trotzdem könnte ich wetten, daß Sie die Thora besser kennen als irgendein
Rabbi.« Ben zog die Augenbrauen hoch. Irgendwann in seiner nebelhaften
Vergangenheit hatte jemand schon einmal dasselbe zu ihm gesagt. Er konnte sich
nur nicht erinnern, wer es gewesen war, aber es hatte in seinem Geist dieselbe
Reaktion hervorgerufen. Genau wie damals ertappte sich Ben dabei, wie er
dachte: Es ist doch ziemlich seltsam, daß ich über Thora und Judentum
vermutlich mehr weiß als beispielsweise der hiesige Rabbi, und doch gibt es
dabei diesen großen Unterschied…
Was ist überhaupt Religion?
Es ist mehr, als etwas zu wissen, mehr, als etwas auswendig zu lernen und ein
Fachmann darin zu sein. Religion ist, etwas zu fühlen.
Und dieses Gefühl, das man
gewöhnlich Glauben nannte, war bei Ben nicht vorhanden.
»Warum wurden Sie dann aber
Atheist?« hörte er Judy fragen. »Warum haben Sie es nicht einmal mit dem
Christentum versucht? Oder mit dem Buddhismus?«
»Es war nicht das Judentum,
von dem ich mich abwandte, sondern Gott. Es gibt Leute, die keine Religion
brauchen. Sie bringt nämlich nicht jedem den ersehnten Seelenfrieden. Für
manche Menschen kann Religion Leid bedeuten.«
»Ja, das kann schon sein…«
Sie blickte wieder nach unten auf den Stapel Papier in ihrem Schoß. »Ich frage
mich, wie es für David ausgeht. Meinen Sie, daß er ein großer Rabbi wurde?
Vielleicht sogar ein Mitglied des Hohen Rats?«
Auch Ben fing an, auf seine
übersetzten Seiten zu starren. Er stellte sich einen siebzehnjährigen Juden mit
schwarzem, welligem, schulterlangem Haar und den träumerischen Augen eines
Propheten vor. David, David, dachte Ben, was versuchst du nur, mir zu sagen?
Welche furchtbare Tat ist es, die zu gestehen du deinen ganzen Mut
zusammengenommen hast, die du in verborgenen Tonkrügen versiegelt und mit einem
mächtigen Fluch geschützt hast? Und dieser Fluch… Bens Miene verdüsterte sich.
War es möglich, daß er wirklich über einige Macht verfügte? Könnte er mich etwa
in irgendeiner Weise beeinflussen? Ist das der Grund für meine Alpträume, für
meine schlaflosen Nächte, für meinen Streit mit Angie? Habe ich deshalb den
Eindruck, daß David langsam Einfluß auf mein Leben gewinnt? Kann es sein, daß
der Fluch Mose tatsächlich wirkt? – »Dr. Messer?«
Er blickte Judy an. Sie hatte
geredet, und er hatte nichts gehört. »Es wird allmählich spät. Deshalb sollte ich
mich jetzt vielleicht ans Tippen machen.«
Warum fallen mir so
wunderliche Dinge ein? Warum kommen mir Gedanken, die ich nie zuvor hatte, als
ob jemand anders sie mir eingäbe…?
»Ja, ans Tippen…«
Sie standen zusammen auf und
vertraten sich die Beine. Ben warf einen Blick auf seine Armbanduhr und wurde
von der vorgerückten Stunde aufgerüttelt. Wo war nur die Zeit geblieben?
Judy tippte bis spät in die
Nacht hinein, wobei sie ab und zu ein paar kürzere Pausen einlegte.
Währenddessen saß Ben allein in seinem dunklen Arbeitszimmer. Das Geklapper der
Tasten war weniger störend als die immer wieder einkehrende Stille, so daß Ben
einmal, als er glaubte, Judy habe ganz aufgehört, aufstand und nach ihr sah.
Judy saß, das Kinn auf die Hände gestützt, vor der Schreibmaschine und starrte
ins Leere. Einen Augenblick später setzte sie ihre Tipparbeit fort, als hätte
sie sich plötzlich auf sich selbst besonnen. Ben kehrte an seinen Schreibtisch
zurück, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem
Kopf. Wieder zogen die Ereignisse von Rolle Nummer fünf an seinem inneren Auge
vorbei. Er verweilte ein wenig bei Rebekka, malte sich den Unterricht in der
Vorhalle des Tempels aus, sah sich dabei, wie er den ersten Brief an seinen
Vater schrieb, und wunderte sich, daß Eleasar von seiner Tätigkeit als
Wasserträger erfahren hatte. Dies waren gute Jahre, damals
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