Der Fluch der Schriftrollen
Stirn und suchte nach einer Antwort. »Niemand hat mir je zuvor diese Frage
gestellt. Ich weiß nicht recht. Wahrscheinlich einfach, weil ich mich dafür
interessiere.«
»Schon immer?«
»Solange ich mich erinnern
kann. Schon als Junge haben mich antike Manuskripte fasziniert.« Ben führte
seine Tasse zum Mund und trank schlürfend einen Schluck. Es war tatsächlich so.
Niemand hatte ihn je zuvor danach gefragt, und folglich hatte er sich auch nie
Gedanken darüber gemacht. Als er nun darüber grübelte, fiel ihm absolut kein
Grund ein, warum er sich der Paläographie, der Handschriftenkunde, verschrieben
hatte. »Ich glaube, es hat sich wohl einfach so ergeben.«
»Es ist interessant. Aber man
muß dafür sehr geduldig sein, was ich nicht bin. Hatten Sie als Kind eine
intensive religiöse Erziehung?«
»Ja.«
»Ich nicht. Meine Eltern
waren Reformjuden. Und selbst als solche hielten sie sich an keinerlei Gebote.
Ich kann mich nicht entsinnen, je den Unterschied zwischen Jom Kippur und Rosch
Ha-Schana gekannt zu haben.« Sie nippte ein wenig an ihrem Kaffee und überlegte
sich, wie sie ihre nächste Frage formulieren sollte. »Waren Sie sehr klein, als
Sie Deutschland verließen?«
»Ich war zehn.«
Sie sah ihn mit ihren großen
Augen an, die so ausdrucksvoll und unwiderstehlich waren, und Ben wußte genau,
was sie dachte. Es war ein Thema, das er noch nie zuvor angeschnitten hatte,
nicht einmal mit Angie, und er erkannte, daß er gefährlich nahe daran war, sich
darauf einzulassen.
»Haben Sie Geschwister?«
»Nein.«
»Da haben Sie aber Glück. Ich
war eines von fünf Kindern. Drei Brüder und eine Schwester, und ich war in der
Mitte. Gott, was für ein Irrenhaus! Mein Vater war Schneider. Er hatte sein
eigenes Geschäft und konnte es sich leisten, uns in relativem Wohlstand
aufzuziehen. Rachel, meine kleine Schwester, lebt immer noch bei meinen Eltern.
Die anderen sind alle verheiratet. Wissen Sie«, sie lachte leise auf, »ich habe
mir so oft gewünscht, ein Einzelkind zu sein. Sie hatten Glück.«
»Hm, ich weiß nicht recht«,
erwiderte er geistesabwesend. Wie oft hatte er sich als Kind Geschwister
gewünscht? »Eigentlich hatte ich ja doch einen älteren Bruder. Aber er starb,
als ich noch klein war.«
»Das ist zu traurig. Erinnern
Sie sich an Deutschland?« Ben sah Judy ruhig an und fühlte sich seltsam
behaglich dabei, sich so mit ihr zu unterhalten. Er wußte, daß sie ihn aus der
Reserve locken wollte. Nachdem sie über ihre eigene Vergangenheit gesprochen
hatte, würde es ihm leichter fallen, über seine eigene zu sprechen. »Sie wollen
wissen, wie es war, während des Krieges ein Jude in Deutschland gewesen zu
sein«, stellte er schließlich fest. »Ja.«
Ben schaute gedankenvoll auf
seine Hände. Heute scheint der richtige Tag zu sein, um an wunden Punkten zu
rühren, dachte er. Zuerst Angie, dann der Alptraum und nun auch noch das.
»Wissen Sie, ich habe nie mit jemandem über diesen Abschnitt meines Lebens
gesprochen. Nicht einmal meine Verlobte weiß viel über mich vor meinem
zwanzigsten Lebensjahr, und sie ist durchaus bereit, es dabei zu belassen.
Warum interessieren Sie sich so dafür?«
»Es liegt
wohl in meiner Natur. Ich weiß gern über die Leute Bescheid. Darüber, was sie
bewegt. Was einen Juden dazu veranlaßt, kein Jude mehr zu sein.«
»Woher wollen Sie wissen, daß
ich je einer war?«
»Sie sagten, Sie hatten eine
religiöse Kindheit?«
»Ja… das sagte ich, nicht
wahr? Also gut, ich werde es Ihnen erklären. Ich habe dem jüdischen Glauben
tatsächlich den Rücken gekehrt. Aber ich wurde nicht nur ins Judentum
hineingeboren, und damit hatte es sich, wie es auch bei Ihnen der Fall war. Ich
war einmal ein praktizierender Jude, und dann habe ich es aufgegeben.
Eigentlich tat ich sogar mehr als das. Ich wandte mich erhobenen Hauptes davon
ab und schlug die Tür hinter mir zu. Zufrieden?« Sie zuckte die Achseln. »Das
war keine sehr theologische Antwort.«
»Das habe ich auch nie
behauptet. Na ja…« Es war, als spräche er mit sich selbst. »Vielleicht war ich
einfach nicht dazu bestimmt, ein Jude zu sein. In der Kindheit wurde ich weiß
Gott genug darauf getrimmt. Hebräisch war mir ebenso geläufig wie Jiddisch. Ich
besuchte die Jeschiwa und ging jeden Samstag in die Synagoge. Als ich dann
neunzehn war, stellte ich fest, daß es einfach nichts für mich war. Und so habe
ich es ganz und gar sein lassen.«
»Sind Sie jetzt ein Atheist?«
Erneut fühlte er sich
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