Der Fluch der Sphinx
Vorkammer überquerte, versuchte sich Erica jenen wundervollen Tag im November1922 auszumalen, als man das Grab öffnete. Welche Aufregung mußte Howard Carter und seine Mitarbeiter erfaßt haben, als sie die reichste archäologische Schatzkammer, die jemals entdeckt wurde, betraten.
Dank ihrer genauen Kenntnisse über den Ablauf der Entdeckung vermochte Erica die meisten gefundenen Gegenstände in ihrer Vorstellung an die ursprünglichen Standorte einzuordnen. Sie wußte, daß die zwei lebensgroßen Statuen Tutanchamuns zu beiden Seiten des Zugangs zur Grabkammer und die drei Prunkbetten an der Wand gestanden hatten. Dann besann sie sich auf das merkwürdige Durcheinander, das Carter im Grab festgestellt hatte, ein bislang unerklärtes Geheimnis. Vermutlich hatten Grabräuber ein solches Chaos hinterlassen. Aber warum waren die Grabbeigaben nicht später wieder in Ordnung gebracht worden?
Erica wich einer Gruppe begeisterter französischer Touristen aus und wartete, bis sie in die Grabkammer konnte. Während sie geduldig dastand, trat der Mann im schwarzen Anzug herein, der sie im Grab Sethos I. so erschreckt hatte; in der Hand hielt er einen aufgeschlagenen Reiseführer. Unwillkürlich krampfte sich in Erica alles zusammen. Doch konnte sie mit Erfolg ihre Furcht unterdrücken, denn sie war fest davon überzeugt, daß sie sich alles nur einbildete. Außerdem achtete der Mann allem Anschein nach überhaupt nicht auf sie, als er vorbeiging. Sie konnte seine Hakennase deutlich sehen, die ihm das Aussehen eines Raubvogels verlieh.
Dann nahm sie all ihren Mumm zusammen und suchte die Grabkammer auf, in der die Touristen sich drängten. Der Raum war durch ein Geländer unterteilt, und der einzige freie Platz war neben dem Mann im schwarzen Anzug. Für einen Moment zögerte sie, aber dann trat sie neben ihn ans Geländer und betrachtete Tutanchamuns prachtvollen rötlichen Sarkophag. Verglichen mit der stilistischen Perfektion der Wandmalereien im Grab Sethos’ I., waren die Wandgemälde in Tutanchamuns Grabkammer bedeutungslos. Während ihr Blick durch den Raum wanderte, konnte Erica den aufgeschlagenen Reiseführer des Mannes in Schwarz einsehen. Die aufgeschlagene Seite zeigte den Grundriß des Tempels in Karnak. Das hatte nichts mit dem Tal der Könige zu tun, und mit einem Schlag stieg in Erica die alte Furcht wieder auf. Hastig wich sie vom Geländer zurück und verließ überstürzt das Grab. Im Sonnenschein und an der frischen Luft fühlte sie sich auch diesmal wieder wohler, aber nun besaß sie endgültig darüber Klarheit, daß sie keinen Wahnvorstellungen erlag.
An der Verkaufsbude, die knapp zehn Meter vom Eingang zu Tutanchamuns Grab entfernt stand, waren keine Tische mehr frei, aber Erica war heilfroh um das Gedränge, denn die vielen Menschen verliehen ihr ein Gefühl von Sicherheit. Sie kaufte sich an der Bude eine Dose kalten Fruchtsaft, und mit ihrem Proviant aus dem Hotel setzte sie sich auf das niedrige Umfassungsmäuerchen der Veranda. Sie behielt den Eingang zum Grab Tutanchamuns im Blickfeld, und während sie die Grabstätte beobachtete, kam der Mann heraus und schritt über den Parkplatz zu einem kleinen schwarzen Wagen. Er nahm auf dem Fahrersitz Platz, seine Füße ließ er heraushängen, die Autotür offen. Sie überlegte krampfhaft, was seine Anwesenheit wohl zu bedeuten haben könne; hatte er ihr irgend etwas antun wollen, dazu wäre schon vielfach Gelegenheit gewesen. Sie zog daraus den Schluß, daß er sie lediglich beschatten wollte, vielleicht im Auftrag des Department of Antiquities. Erica atmete einmal tief durch und versuchte, dem Mann keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Zugleich faßtesie jedoch den Entschluß, künftig in der Nähe von Touristen zu bleiben.
Ihre Mahlzeit bestand aus mehreren Scheiben Lammfleisch zwischen Brotfladen, die sie nachdenklich verzehrte, während sie zum nahen Eingang zu Tutanchamuns Grab auf der anderen Seite des Weges hinüberschaute. Es verhalf ihr ein wenig zur Entspannung, als sie sich vorstellte, wie viele tausend viktorianische Besucher hier im Tal der Könige ihre kalte Limonade geschlürft hatten, ohne zu ahnen, daß bloß zehn Meter sie vom größten unterirdischen Schatz der Welt trennten. Die Grabstätte Sethos’ I. war auch nicht allzu weit von der Verkaufsbude entfernt.
Als sie das zweite Lammfleisch-Sandwich anbiß, machte sie sich Gedanken über die geringe Entfernung zwischen den Gräbern von Ramses VI. und Tutanchamun.
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