Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
normannischen Ritters so gut gefiel, dass er sich vor Lachen kaum zu halten wusste.
»Es hat sich nichts verändert«, sagte Adelia glücklich.
»Doch, das hat es«, wiedersprach ihr Mansur. »Es gibt viel mehr christliche Kirchen und weniger Moscheen. Auch weniger Synagogen.«
Das war Adelia bis jetzt nicht aufgefallen, aber er schien recht zu haben. Das Läuten von den Kirchtürmen war lauter, als sie es in Erinnerung hatte, lauter als der Ruf der Muezzins.
Für Ulf und Boggart war die Mischung dennoch ein einziges Wunder. »Ich dachte, König Henry wäre liberal«, sagte Ulf. »So gut, wie er seine Juden behandelt. Aber das hier … Wie konnte das entstehen?«
»Die Normannen«, erklärte Adelia ihm. »Die Normannen waren hier.«
Starrköpfige, unbarmherzige Abenteurer waren sie gewesen.
Und genial.
Von einer Gruppe landhungriger Brüder angeführt, den Hautevilles, hatten sie Sizilien und Süditalien unterjocht und der arabischen Herrschaft entrissen. Gleich anschließend jedoch machten sie die Araber zu ihren Beratern. Zwietracht kostete Geld und Menschenleben, ergo sorgten die Hautevilles dafür, dass es in ihrem Reich keine Bürger zweiter Klasse gab, die Ärger hätten verursachen können, und so schufen sie ein Königreich, das alle anderen Reiche überstrahlte, genau wie der Sirius alle anderen Sterne am Nachthimmel mit seiner Helligkeit in die Schranken verweist.
»Allerdings«, sagte Adelia, »ist es ein flüchtiges Gemisch.« Die Sizilianer neigten zu plötzlichen Gewaltausbrüchen und schrecklichen Vendettas, und hin und wieder wurde sogar ein Minister ermordet, nicht wegen seiner Hautfarbe oder Religion, sondern weil er sich unbeliebt gemacht hatte. »Es gibt hier genug kleine Gassen, die nachts nicht sicher sind, nicht mal bei Tage, um ehrlich zu sein.«
Erlaube nur, dass es besser wird, oh Gott! Lass es auf ewig so fortbestehen.
Endlich erreichten sie den mächtigen torlosen Bogen des Harat al-Yahud – wofür hätten die Juden ein Tor gebracht? – mit einem in Stein gemeißelten Davidstern.
Adelia spürte, wie sie zitterte. Hinter dem Bogen lag eine weitere der vielen Welten Siziliens,
ihre
Welt, die nach Hennablüten und Kümmelsamen roch, nach sämtlichen Gewürzen aus dem Lied Salomons. Kinder liefen Fangen spielend um Männer mit schwarzen Hüten und Schläfenlocken herum, die sich über Schachbretter beugten, Heiratsvermittler besprachen sich mit Schwiegertöchter suchenden Vätern bei koscherem Wein, und aus den Synagogen drang das
Schemone-Esre
-Gebet.
Es war eine Welt der Güte: Als Tochter eines angesehenen Arztes war sie von überallher gesegnet worden, ganz zu schweigen von den
abricotines
und
barfi badams,
die ihr von den Süßigkeitenverkäufern zugesteckt worden waren, an denen sie vorbeikam.
Sie fasste Mansurs Arm, als sie in eine Straße mit eng zusammengedrängten Häusern bogen. »Sie könnten hier sein, sie könnten. Vielleicht sind sie für die Hochzeit gekommen.« Sie wandte sich an Deniz und zeigte auf ein Haus: »Dort werden wir wohnen.«
Mehr hatte der Türke nicht wissen wollen und schon eilte er zurück zum Admiral.
Aber die Tür, die Doktor Gershoms und Doktor Lucias Patienten, den begüterten wie den mittellosen, immer offen gestanden hatte, wenn sie in der Stadt waren, diese Tür war verschlossen, genau wie die Fensterläden.
Zärtlich berührte Adelia die Mesusa in der kleinen vergitterten Nische im Türpfosten. »Sie sind nicht hier.« Sie hätte heulen können.
Da kam ein Ruf von nebenan: »Adelia Aguilar! Bist du es, Kleines?« Und schon wurde sie von dicken Armen und Küchengeruch umhüllt. »Schalom, mein Kind! Welche Gnade du bist für meine alten Augen. Aber so dünn, was haben sie mit dir gemacht, diese Engländer?«
Was für ein Trost. »Schalom, Berichiyah! Wie schön, dich zu sehen! Wie geht es Abrahe?« Sie stellte die Frau vor. »Das ist Berichiyah uxor Abrahe de la Roxela, eine alte Freundin. Sie bewahrt den Schlüssel zu unserem Haus auf und kümmert sich während der Abwesenheit meiner Eltern darum.«
Berichiyah war kaum anders gekleidet als die übrigen ehrbaren Frauen Siziliens. Hier wie auch überall sonst nahmen die Juden die Kleidungsgewohnheiten des Landes an, in dem sie lebten. Der Kinnriemen einer steifen Leinenhaube umrahmte die Falten ihres Gesichts, und über dem Mieder ihres Kleides wölbte sich ein enormer Busen. Der Rock war mit einer Nadel hochsteckt und ließ den Unterrock sehen. Dennoch hätte sie niemals jemand
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