Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
für etwas anderes als eine Jüdin gehalten, und wenn doch, wäre sie beleidigt gewesen.
»Sind sie nicht hier, Berichiyah?«
»Sie haben geschrieben, dass sie vielleicht kommen, vielleicht aber auch nicht.«
Diese Vielleichts hatten etwas Angst Machendes, das Adelia gleich fragen ließ: »Sie sind doch nicht krank?«
»Nein, nein, nicht krank. Als sie zuletzt geschrieben haben, ging’s beiden gut.« Berichiyah wechselte das Thema. »Warte, ich lasse dich hinein. Wie lang seid ihr hier? Ich hoffe, lange genug, dass ich etwas Fleisch auf deine Knochen bekomme.«
Sie verschwand und kam mit einem Schlüssel zurück. »Geht hinein, geht hinein! Alles ist sauber, und die Betten sind gelüftet. Ich hole Rebekkas Wiege für das Baby, ihr Juceff ist herausgewachsen. Wir haben jetzt zehn Enkelkinder, Adelia. Sechs Jungen und vier Mädchen. Und einen Großenkel, unser Benjamin hat im letzten Jahr die Tochter des Axtmachers geheiratet …«
»Geht es Abrahe gut?«, fragte Adelia noch einmal.
»Nicht gut, gar nicht gut, mein Mädchen. Der arme Mann hat die Gicht, und selbst dein Vater kann nichts für ihn tun.«
Berichiyahs Mann war vor Jahren schon heftig erkrankt und hatte seiner Frau das Lesen beigebracht, damit sie das Dattelimportgeschäft weiterführen konnte, das er von seinem Vater geerbt hatte. Seitdem musste sie für den Unterhalt der Familie sorgen, die vielen Kinder großziehen und gleichzeitig das Bild erhalten, dass er nach wie vor das, wenn auch leidende, Oberhaupt der Familie war.
»Ihr müsst erschöpft sein und wünscht euch sicher eine ruhige Nacht. Ich werde euch etwas Ziegeneintopf bringen, genug für euch alle. Du erinnerst dich doch an meinen Ziegeneintopf, Adelia? Morgen Abend esst ihr bei uns.«
Das Glück blieb ihnen jedoch versagt.
Immer noch in ihren Schaffellmänteln aus Caronne waren sie am nächsten Tag die so dringlich benötigten neuen Kleider kaufen gegangen. Adelia hatte den Markt in La Kalsa vorgeschlagen, dem Arbeiterviertel Palermos, wo es neue Gewänder und Turbane für Mansur gab und sich auch Adelia, Boggart und Ulf neu ausstatten konnten. Auch für Donnell würde es frische Tücher und ein neues Umhängetuch geben. Und das alles für nicht viel Geld.
Sich von Admiral O’Donnell Geld zu leihen war Adelia schwergefallen, aber er hatte gesagt: »Ganz ruhig, das stelle ich König Henry in Rechnung.«
»Oh, das wird er mögen.«
Als Boggart die bunten, gebrauchten Röcke an einem Stand durchsehen wollte, hielt Adelia für eine Weile Donnell, wobei ihr Blick auf die Bude daneben fiel. Donnell an sich drückend, verfolgte sie das Spiel von vier Marionetten, die von unsichtbaren Spielern über eine winzige Bühne bewegt wurden. Palermo war berühmt für seine Marionetten. Ihre Pflegeeltern hatten ihr als Kind eine gekauft, einen hölzernen, bemalten kleinen Ritter, den sie beim Spiel kaputt gemacht hatte.
Hier gab es auch einen Ritter, wahrscheinlich den großen Helden Roland von Roncesvalles, der sein Schwert laut krachend mit einem furchterregend aussehenden Mauren kreuzte. Adelias Bick wurde jedoch nicht von den beiden Kämpfern angezogen, sondern von einem lustigen Maultier und einem Kamel, die sich seitlich auf der Bühne jagten, wild um sich traten und die Mäuler aufrissen.
Die wären etwas für Allie.
Die Frage war, ob sie noch mehr Geld des Iren ausgeben sollte, um die beiden Figuren für ihre Tochter zu kaufen.
»Aber wenigstens eine, was meinst du, Donnell?«, fragte sie das Baby, dessen Blick auf die beiden hüpfenden Puppen geheftet war. »Das Kamel? Das Maultier?«
In diesem Moment schob jemand etwas zwischen Donnells Tuch und ihren Arm.
Sofort fuhr ihre Hand zum Geldbeutel an ihrem Gürtel, der aber noch da war, und sie fuhr herum und sah den Rücken eines schäbig aussehenden Mannes in der Menge verschwinden.
»Was ist, Missus?«, fragte Ulf.
Es war ein Stück Papier, etwas, das in England praktisch noch unbekannt war, verschlossen mit zwei Tropfen ungestempelten Siegelwachses.
An Mistress Adelia von ihrer Freundin Blanche von Poitiers, mit Grüßen. Kommt ins »Schild von Jerusalem« in der Straße der Silberschmiede, in einer Stunde!
Die Schrift war verschlungen und doch fließend. »Ich dachte nicht, dass Blanche schreiben kann«, sagte Adelia, nachdem sie die Zeilen laut vorgelesen hatte.
»Kann sie auch nicht«, sagte Ulf. »Der Brief ist von Scarry, ganz sicher. Er will Euch in den Tod locken, nichts anderes.«
Ulf musterte argwöhnisch alle
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