Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
Fußende von Sir Nicholas’ Totenbahre. Zwei Mönche knieten links und rechts von ihm.
Das einzige Geräusch in der Stille war das Plitschen von Regentropfen, die durch eine undichte Stelle im Dach leckten und in einen unsichtbaren Eimer fielen.
Rowley sagte: »Danke, Brüder, ihr könnt jetzt gehen. Ich werde eine Weile bei meinem Freund wachen.«
Die beiden waren offenbar froh, aus ihrer Andacht entlassen zu werden, und erhoben sich sofort. Sie rieben sich die armen Knie, verbeugten sich vor dem Toten, dem Altar und schließlich dem Bischof von St. Albans, bevor sie hinausschwebten.
Rowley schlug die Tür hinter ihnen zu und schob den Riegel vor. »Also dann, komm und sieh dir das an!«
Der tote Körper war in ein seidenes Leichentuch gehüllt. Für gewöhnlich ließ man das Gesicht frei, Sir Nicholas war aber ganz eingewickelt. Adelia hätte genauso gut eine ägyptische Mumie betrachten können.
Gemeinsam und unter großen Anstrengungen gelang es ihnen, den toten Ritter, der ein schwerer Mann gewesen war, aus seinem Kokon zu befreien. Als die Leiche endlich offen vor ihnen lag, sah Adelia, warum das Gesicht verhüllt gewesen war. Da, wo ein Auge hätte sein sollen, war nichts als ein schartiges Loch.
»Was ist mit ihm passiert?«
»Der junge Aubrey hat ihn entdeckt und laut ›Gefunden!‹ geblasen. Himmel, es war ein Fiasko, diese Jagd. Der Regen, dazu war es finster wie in einem Bergwerk. Zu viele Männer verstreut unter zu vielen triefenden Bäumen, und keiner wusste, wo er eigentlich war. Ich habe versucht, Ordnung in die Sache zu bringen.«
Rowley nahm seine Mütze ab und fuhr sich durch die Haare. Sein Gesicht war ganz verkniffen vor Müdigkeit und Trauer.
»Auf jeden Fall«, sagte er, »habe ich Aubreys Horn gehört und bin hingeeilt. Der Junge … er hatte Nicholas’ Fuß aus dem Steigbügel befreit, den Körper auf die Erde gelegt und weinte. Ein großer Splitter steckte im Auge des armen alten Nicholas, und so dachten wir, sein Pferd müsse durchgegangen und er gegen einen Ast geprallt sein. Der Splitter hätte jeden umgebracht.«
»Aber jetzt glaubst du das nicht mehr?«
»Nun … da waren Ivo, Nicholas und keine Zeit, über irgendwas nachzudenken. Aber als ich später bei Ivo saß und das Ganze zu verstehen versuchte, wurde mir bewusst, dass da viel mehr Blut hätte sein müssen, wenn das Aststück Nicholas getötet hätte. Aber das war nicht so, und … Tote Männer bluten nicht, das hast du mir beigebracht.«
»Also hat ihn vorher schon etwas anderes umgebracht?«
»Deshalb bist du hier. Beeil dich! Sie werden bald mit Ivo kommen.«
Adelia zog die Kapuze vom Kopf. Für einen Augenblick kniete sie sich neben die Leiche, wie sie es immer tat, und bat um Vergebung für das, was sie jetzt tun würde. Die Seele, die den Körper bewohnt hatte, war von ihm befreit, die Toten waren ohne Sünde – nun ihr Objekt.
Wer immer den Körper aufgebahrt hatte, hatte ihn nur flüchtig gewaschen. Die Haut war voller grüner Spuren, wo die Kleider zerrissen waren, als er durchs Gras geschleppt wurde. Steine und Brombeergestrüpp hatte lange Risswunden im Fleisch hinterlassen.
»Gib mir mehr Licht!«
Heißes Wachs tropfte auf die Falten des Leichentuches, als Rowley eine der Kerzen nahm und sie näher heranbrachte. In der Dunkelheit hinter ihnen tropfte der Regen rhythmisch in seinen Eimer.
»Hmm.«
»Was?«
»Schau!« Ihre Finger hatten oben links auf dem Rücken einen halb abgerissen, zerfransten Hautfetzen angehoben und darunter ein Loch gefunden. Daraus hatte Nicholas geblutet, und zwar heftig. Die nachlässigen Totenwäscher hatten die Krusten rundum nicht abgewaschen.
»Hier!« Adelias Finger tasteten tiefer. »Da steckt was drin. Ich kann Holz fühlen.«
Sie hob den Blick. »Rowley, ich glaube, es ist eine Speerspitze, sehr dünn, aber ja, es ist eine Art Schaft, die Spitze eines Speers, der abgebrochen ist, als Nicholas hinter dem Pferd hergeschleppt wurde.«
Seine Stimme zerschnitt die Stille. »Verdammte Wilderer!« Wieder fuhr er sich durchs Haar und sagte dann leiser: »Mein Gott, was für ein Ende für solch einen Mann!«
»Was wirst du tun?«
»Dem Abt sagen, dass es eine verdammte Schande ist, Wilderer in der Gegend zu dulden, die ihre Speere nach allem werfen, was sich bewegt.« Er lief in der Dunkelheit auf und ab und häufte wortreich Verdammnis auf die Schurken, die nachts loszogen, um das Wild anderer Leute zu erlegen. Bis ins Detail beschrieb er das unschöne Ende,
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