Der Fluch des Andvari (German Edition)
geschrien, die sie schließlich gefunden hatte. Noch heute mied Julia daher bestimmte Bereiche und am meisten den Keller. Er war dunkel und trist, das Reich der bösen Wesen. Nur einmal hatte sie ihn mit ihrem Opa zusammen betreten. Allein der Gedanke ängstigte sie. Doch hier in der Halle war es hell, der große Kronleuchter an der Decke strahlte, die Lampen an den Wänden waren eingeschaltet.
Mit tänzelnden Schritten durchquerte Julia die Halle, schaute immer wieder nach ihrer Oma, die glücklich lächelte. Sie war mitunter sehr streng, verbot ihr dies oder das, wenn es zu gefährlich schien. Da war ihre Mutter schon nachgiebiger; sie ließ sie gewähren. Dafür machte Julia dann ihre eigenen Erfahrungen, lernte Risiken und Gefahren selbst kennen, wusste, was sie sich zutrauen konnte, wenn auch manchmal mit schmerzhafter Erkenntnis. Dennoch mochte sie ihre Oma. Doch am meisten liebte sie ihren Opa. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, unternahm etwas mit ihr, wann immer er Zeit hatte. Ihr Verhältnis war noch inniger geworden, seit ihr Onkel gestorben war. Selbst ihre Mutter telefonierte seitdem viel öfters mit ihm. Im Winter waren sie sogar im gemeinsamen Skiurlaub in Norwegen gewesen.
Schließlich betrat sie das Speisezimmer. Der Tisch war in kostbarem Geschirr eingedeckt. An der einen Längsseite des Raumes loderte ein Feuer im Kamin.
„Hat unsere kleine Süße doch wieder Appetit“, äußerte Jenning freudestrahlend.
Sie lief auf ihn zu. „Opa, du hast eine Überraschung für mich?“
Er fasste sie behutsam an den Oberarmen. „Ja, meine Kleine. Aber erst nach dem Essen.“
„Was ist es? Eine Feenfigur? Ein Buch?“
„Nein“, lachte er. „Komm, setz dich.“
Sie nahm an seiner Seite Platz. Das Kaminfeuer in ihrem Rücken spendete eine angenehme Wärme. Sie war unheimlich neugierig auf die Überraschung, aber sie wusste, dass ihr Opa in diesem Punkt nicht nachgeben würde. So aßen sie zunächst, unterhielten sich dabei angeregt – bis das Dienstmädchen Geschirr und Speisen abräumte.
„Und nun die Überraschung“, sprach Jenning und legte ein flaches Paket auf den Tisch.
Es war mit buntem Geschenkpapier umwickelt. Betont vorsichtig nahm Julia es auf. Der Karton war schwer, der Inhalt rappelte leise. „Figuren?“
„Mach es auf“, forderte er.
Julia zerfetzte das Papier. Sie war zu aufgeregt, um es genussvoll zu öffnen. Eine dunkle Schachtel zeigte sich, den Deckel zierte eine schwarzweiße Grafik mit mystisch anzusehenden Gestalten und der Schriftzug ‚Der Herr der Ringe‘. Julia hielt unbewusst den Atem an, als sie es öffnete. „Ein Schachspiel“, freute sie sich.
„Gefällt es dir?“
„Das ist super.“ Fasziniert betrachtete Julia die filigranen Figuren. Dann fiel sie Jenning um den Hals und küsste ihn auf die Wange. „Vielen Dank, Opa.“
„Schön, dass es dir gefällt.“
„Ja, das ist wirklich klasse. Spielst du eine Runde mit mir?“
„Das tut mir leid, meine Kleine. Morgen vielleicht.“
„Oh, das macht nichts. Ich muss sowieso noch mein Buch fertig lesen.“
Julia sprang auf und lief glücklich aus dem Zimmer, ohne sich nochmals umzudrehen.
„Wie unbekümmert sie wirkt“, äußerte Dorothea Jenning nachdenklich.
„Ja, genau wie es ihre Mutter einst war.“
Sie wandte sich ihm zu. „Du musst es endlich vergessen, Reinhold.“
„Wie kann ich das“, entgegnete er verbittert. „Sie hatten beide eine großartige Zukunft vor sich ... Harald und Hannah.“
Jetzt war Harald tot, sein einziger Sohn, getötet bei einem Flugzeugabsturz. Und Hannah hatte sich von ihrem Mann, einem angesehenen Altertumsforscher, scheiden lassen. Beide seiner Kinder hatten die Führungsrolle in dem Imperium übernehmen sollen. Um die Zukunft wäre es Jenning nicht bange gewesen. Doch das Schicksal hatte vor einem Jahr all seine hochgesteckten Pläne zunichte gemacht. Aber es war nicht das Schicksal allein gewesen. Nie hatte Jenning mit jemandem über diese eine Sache gesprochen - nicht einmal mit seiner Frau. Es hatte ihn überrollt wie eine Lawine. Doch er würde nicht aufgeben. Sein Imperium war sein Leben, niemand würde diese Errungenschaft zerstören können. Aber allein konnte Hannah es nicht leiten. Sie war zu unerfahren und zudem eine Frau. Sie brauchte einen starken Begleiter an ihrer Seite, einen einflussreichen und integeren Mann aus dem Vorstand. Wie konnte Jenning sie für einen von ihnen gewinnen? Seine Geburtstagsfeier wäre eine gute Gelegenheit.
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