Der Fluch des Andvari (German Edition)
nächster Woche. Ich will mir erst noch ein paar Bücher anschauen und mich inspirieren lassen.“
„Ich könnte mir eine mittelalterliche Burg vorstellen“, schwärmte Hannah. „Oder eine Höhle mit einem riesigen Goldschatz.“
„Du meinst den Hort der Nibelungen. Ob er wirklich existiert hat?“
„Ja, Bea, das denke ich. Auch wenn die Geschichte nicht unbedingt im Mittelalter gespielt hat, wie uns das Nibelungenlied berichtet.“
„Wer kann heute noch mit Bestimmtheit sagen, was Realität und was Phantasie ist.“
„Oh, da gibt es schon eindeutige Untersuchungen“, erklärte Hannah. „Die Geschichte, die wir gewöhnlich von den Nibelungen kennen, entspringt den Federn unbekannter Autoren aus dem zwölften Jahrhundert. Es gibt mehrere Handschriften, die uns von dem Drama erzählen. Aber die Autoren bedienten sich nachweislich viel älterer Texte, die sie in einem neuen Kontext zusammenfügten, mit mittelalterlichen Elementen ausschmückten und mit den Bauwerken am Wormser Dom verbanden. Anhand der Gebäude, die damals dort gestanden haben, lassen sich die örtlichen Beschreibungen der Autoren im Nibelungenlied gut nachvollziehen. Doch wenn es die Nibelungen tatsächlich gegeben hat, dann müssen wir sie zur Zeit der Völkerwanderung suchen, also im fünften und sechsten Jahrhundert. Viele Textpassagen in den Handschriften entstammen Erzählungen, die wir in der nordischen Edda oder der Völsungen-Saga finden. Aber auch dort hat bereits teilweise eine Vermischung und Harmonisierung stattgefunden. Die wahren Ursprünge lassen sich nur schwerlich ausmachen und sind zum Teil heftig umstritten unter den Historikern.“
„Da spricht ja eine richtige Expertin“, lobte Beate.
Hannah nahm es zufrieden auf. „Die Mythologie ist eben mein Steckenpferd.“
„Ja, ich weiß. Da komme ich mit meinem Wissen über die Historie nicht mit.“
„Jetzt stellst du aber dein Licht unter den Scheffel, Bea. Mit deinen Kenntnissen hättest du locker den Doktor in Geschichte gemacht.“
„Aber dann hat mich die Malerei gepackt“, entgegnete sie fröhlich.
„Und irgendwann sehe ich dann den ersten Beate Wittek“, scherzte Hannah, „ein Ölgemälde auf Leinwand ... eines Rembrandts würdig.“
„Wenn du willst, kannst du meine Managerin werden.“
„Ja, ich helfe dir beim Geldzählen.“
Beide Frauen lachten freudig. Hannah mochte diese Frau. Beate war ihr eine liebe und treue Freundin geworden. Viel hatten Julia und sie in den vergangenen Monaten mit ihr unternommen, waren zusammen im Schwimmbad gewesen, auf der Eisbahn, in Konzerten. Auch Beate war dabei stets ohne männliche Begleitung erschienen. Sie erzählte wenig von ihrem Liebesleben, machte nur den einen oder anderen Witz über Männer. Für einen Augenblick musste Hannah an ihre Einsamkeit denken, an die Leere in ihrem Herzen. Doch das zählte heute Abend nicht. Beate füllte diese Leere, sie war ihr nah, spendete Trost und Güte. Nur schade, dass sie eine Frau war. Sie besaß so viel Feingefühl und Herzlichkeit.
„Weißt du, was mich am meisten freut?“, fragte Beate schließlich.
„Was?“
„Dass wir beide uns so gut verstehen. Ich habe es dir noch nie gesagt, Hanni ... aber du bist meine beste Freundin.“
Hannah reagierte verlegen. „Wirklich?“
„Du bist so offen und herzlich.“
„Ja, ich finde dich auch unheimlich nett, Bea. Und wenn ich ehrlich bin, bist du die einzige, die ich hier wirklich gut kenne.“
Im Schatten einer Hauswand blieb Beate stehen. Ein merkwürdiges Funkeln lag in ihren Augen. „Ich hab dich sehr gern, Hanni.“
Hannah lächelte. Die Blicke beider Frauen trafen sich. Da streichelte Beate ihr sanft mit der Hand über die Wange. Die Berührung traf Hannah wie ein Blitz. Verwirrt wich sie zurück.
„Oh, entschuldige, Hanni, ich ...“
„Nein, nein“, wehrte sie ab. „Ich muss mich entschuldigen. Du hast ...“
Beates Nähe verwirrte ihre Sinne. Für einen Augenblick hatte sie wirklich geglaubt, ihre Freundin wollte sie küssen – nein, das war absurd.
Ein verständnisvolles Lächeln umspielte Beates Lippen. „Komm, lass uns weitergehen.“ Hannah war froh über diese Worte. Irgendwie schämte sie sich für ihr Verhalten; ihre Freundin hatte es sicherlich nicht böse gemeint.
Schweigend gingen die Frauen nebeneinander her, bis sie das Restaurant Heiliggeist gegenüber der Rheingold-Halle erreichten. Ein sehr beliebtes und stilvoll modernisiertes Gebäude aus dem 13. Jahrhundert mit romanischer
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