Der Fluch des Andvari (German Edition)
entlang. Rechts und links des Weges erhoben sich hohe Pappeln, dahinter gut gepflegte Rasenflächen. Hier und dort standen kleine Nebengebäude. Das gesamte Anwesen glänzte durch schlichte Eleganz. So auch das Hauptgebäude, das im klassizistischen Stil erbaut worden war. Der Vorplatz war großzügig gestaltet und bot Platz für ein Dutzend Fahrzeuge.
Ein älterer Mann in Livree erschien auf der Freitreppe. „Willkommen zu Hause, Frau Hannah.“
„Hallo, Rogatus. Schön, Sie wiederzusehen“, erwiderte sie freudig, als sie ausstieg.
Sie mochte diesen Mann. Er war schon angestellt gewesen, als Hannah noch ein junges Mädchen war. Früher hatten sie sich geduzt, heute bestand er auf der respektvollen Form – was sie bis heute nicht verstand.
Routiniert öffnete er den Kofferraum und nahm die Gepäcktaschen heraus.
„Ist meine Tochter da?“
„Sie ist vor einer halben Stunde mit Ihrem Herrn Vater vom Reitplatz zurückgekommen.“
Freude packte Hannah. „Danke, Rogatus.“
Fröhlich lief sie die Treppe hinauf und betrat die große Eingangshalle. Ein Mann mit kurzem weißem Haar kam ihr entgegen. Er trug eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und eine dunkle Strickjacke darüber. Hinter ihm erschien Julia. Sie trug noch ihren Reitdress. Das lange, blonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
„Mami“, rief sie glücklich.
„Hallo, mein Schatz.“ Freudig eilte Hannah ihr entgegen. Sie umarmten sich stürmisch, lachten fröhlich. „Ich habe dich vermisst.“
In Julias Augen glitzerten Tränen. „Ich habe dich auch vermisst, Mami.“
„Schön, dass du da bist, Hanni“, äußerte ihr Vater.
„Hallo, Paps.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich freue mich auch.“ Und zu Julia gewandt: „Wie war‘s auf dem Reiterhof?“
„Super. Die haben so liebe Pferde dort.“
Hannah erwiderte das Lächeln ihrer Tochter. In Mainz ging Julia regelmäßig zum Reiten, das mochte sie unheimlich gerne; es war neben dem Bücherlesen ihr liebstes Hobby.
„Aber jetzt musst du dich duschen und umziehen“, forderte Hannah sie auf.
„Kommst du mit in mein Zimmer?“, erwiderte sie aufgeregt. „Ich muss dir etwas zeigen.“
„Was denn?“
„Etwas, was mir Opa gestern geschenkt hat.“
Fragend sah Hannah ihren Vater an.
„Geh nur“, entgegnete er lächelnd. „Ich muss ohnehin noch einige Papiere ordnen. Wir sehen uns zum Abendessen um acht.“
„Okay, Paps. Ist Mama schon zurück?“
„Sie ist noch in der Galerie bei Lydia. Du weißt, am Montag eröffnet sie die neue Vernissage und es ist noch einiges zu gestalten. Aber sie hat versprochen, zum Abendessen zu kommen.“
Die Galerie - was für Hannahs Vater Literatur und Journalismus waren, das waren für ihre Mutter Skulpturen und Gemälde. Sie liebte die ‚schönen Künste‘ und eine gewisse Unabhängigkeit von ihrem Ehemann.
„Okay.“ Dann griff Hannah Julias Hand. „Komm, Prinzessin. Jetzt zeig mir deinen Schatz.“
Das Mädchen schrie freudig auf und lief mit der Mutter beschwingt die Treppe ins Obergeschoss hinauf.
Es war ein großes Zimmer, das Hannahs Eltern für ihre Enkeltochter eingerichtet hatten. Seidene Tücher in blauen und violetten Tönen spannten sich an der breiten Fensterfront, Bilder mit lieblichen Feen und alten Zauberern hingen an den Wänden, mystische Figuren standen in einer großen Vitrine. Neben dem Sofa lagen mehrere bunte Kissen, die zum Kuscheln einluden.
Es erinnerte Hannah an ihre eigene Kindheit. Doch aus ihrer Traumwelt war mittlerweile Realität geworden. Sie hatte gehofft, ihren Prinzen gefunden zu haben, damals mit 20 Jahren. Er war ein charismatischer junger Mann aus einer angesehenen Forscherfamilie gewesen. Aber kaum hatte er sie geschwängert, verließ er sie und verschwand auf einem Schiff irgendwo nach Südamerika. Anfänglich dachte sie daran abzutreiben, denn die Schwangerschaft war nicht gewollt gewesen. Nur der Zuspruch ihrer Eltern half Hannah aus dieser Dunkelheit heraus und sie gebar das Kind. Sie begann ihr Studium voller Ehrgeiz, bis sie ihre große Liebe traf. Er kam aus einer Akademiker-Familie, studierte Germanistik und dazu Archäologie. Sie ergänzten sich wunderbar in ihren Weltanschauungen und Träumen. Nach dem Studium heirateten sie und zogen zwei Jahre später nach Köln. Er bekam die Chance, an Ausgrabungen im Mittelmeerraum teilzunehmen. Anfänglich waren beide begeistert davon, doch mit der Zeit wurden aus Wochen Monate der Trennung. Die Harmonie bröckelte,
Weitere Kostenlose Bücher