Der Fluch des Andvari (German Edition)
sprachen mit Julia, bemerkten die Entführung aber nicht.
„Verdammt!“, fluchte der Mann, der Hannah gepackt hielt.
Sie hatte ihn in die Hand gebissen. Für einen Augenblick lockerte sich sein Griff. Hannah nutzte die Chance, riss sich los, stolperte, stürzte in den Matsch.
„Lass uns abhauen!“, schrie der Mann.
Daraufhin brauste der VW Transporter an dem Haupthaus vorbei, den Feldweg hinauf und verschwand zwischen den Regenschleiern.
„Mami!“, hörte sie ihre Tochter kreischen.
Zitternd richtete sich Hannah auf. Julia und die Reitlehrer eilten zu ihr.
„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte einer von ihnen und half ihr auf. „Hat dieser Rowdy Sie angefahren?“
Sie hatten das wahre Geschehen nicht erkannt.
„Nein, nein“, stotterte Hannah. „Es ist alles in Ordnung.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja“, log sie. „Ich habe mich nur erschrocken, weil ich den Wagen nicht gehört habe.“
„Mami?“, fragte Julia überrascht.
„Wollen Sie sich im Haus …?“, fügte der Reitlehrer hinzu.
„Nein, vielen Dank“, unterbrach Hannah ihn. Und zu Julia: „Lass uns nach Hause fahren, mein Schatz.“
Nur langsam überwand sie den Schock des Überfalls. Sie nahm sich ein Taschentuch und schnäuzte sich die Nase. Alles war klamm und feucht vom Regen. Julia nickte aufgewühlt.
„Sag ‚Tschüs‘ zu deinen Freundinnen“, bat Hannah.
Daraufhin verabschiedete sich Julia von den Mädchen. Hannah überlegte derweil fieberhaft. Sie konnten jetzt nicht einfach nach Hause fahren. Die Männer mussten sie beschattet haben; die Entführung war geplant gewesen. Vielleicht warteten sie jetzt in der Ritterstraße auf sie. Es gab nur einen Ort, wo sie hingehen konnte.
„Komm“, äußerte Hannah bestimmt und nahm Julia an der Hand.
Gemeinsam stapften sie zu den Ställen, wo Hannah ihren Volvo geparkt hatte.
Eine halbe Stunde später war Hannah mit ihrer Tochter in Mainz-Bretzenheim. Sie standen vor einem Reihenhaus und klingelten an Beates Haustür. Immer wieder hatte sich Hannah umgeschaut, geprüft, ob sie nicht verfolgt würde. Jedes parkende Auto hatte sie misstrauisch beäugt, jeden umher stehenden Mann genau gemustert. Sie war keine ängstliche Frau, doch der Überfall hatte ihr gnadenlos gezeigt, wie schutzlos ihre Tochter und sie waren.
Die Tür öffnete sich, Beate erschien. „Hanni“, rief sie entsetzt aus. Ihr Blick wechselte zwischen ihr und Julia. „Was ist passiert?“
Hannah musste furchtbar aussehen. Klatschnasse Haare, rot geweinte Augen, verdreckte Kleidung. „Ich … ich wär’ beinahe überfahren worden“, log sie.
„Was? Bist du okay? Kommt erst mal rein.“ Als sie im Flur standen, fuhr Beate fort: „Zieh die nassen Sachen aus, Hanni. Ich hole Handtücher und was warmes zum Überziehen. Wenn du willst, kannst du auch duschen.“
Das Angebot nahm Hannah dankend an. Nach der Erfrischung fühlte sie sich bedeutend wohler. Jetzt saß sie mit ihrer Tochter und Beate im Wohnzimmer zusammen, in Pullover und Decken gehüllt, eine Tasse mit heißem Tee in der Hand. Sie erzählte von dem Transporter auf dem Reiterhof, vermied jedoch, in Julias Gegenwart die versuchte Entführung anzusprechen.
„Du solltest diesen Rowdy anzeigen“, zeterte Beate.
„Ja, ich …“
„Hast du dir wenigstens das Kennzeichen gemerkt?“
„Nein, es ging alles so schnell.“
„Und die Männer auf dem Hof? Hat denn keiner …?“
„Es hat wie aus Eimern geschüttet.“
„Das tut mir echt leid, Hanni.“ Beate versuchte ein gewinnendes Lächeln. „Du, wenn du Lust hast, könnt ihr beide heute bei mir übernachten.“
Es gab ein schickes Gästezimmer im Dachgeschoss mit einem großen Bett. Mehrmals schon hatte Hannah bei ihrer Freundin übernachtet, aber noch nie mit ihrer Tochter zusammen. Selbst Wohn- und Badezimmer fehlten nicht.
„Danke, Bea. Du bist lieb.“
„Ach, nicht der Rede wert. Was haltet ihr denn von Abendessen?“
„Das ist eine gute Idee“, stimmte Hannah zu und schaute zu Julia. „Du hast sicherlich auch Hunger, mein Schatz?“
Das Mädchen nickte.
„Soll ich dir in der Küche helfen?“, fragte Hannah unsicher.
„Nein, Hanni“, erwiderte Beate und erhob sich. „Das schaffe ich schon allein. Bleib du bei Julia.“
Hannahs Blick glitt zu ihrer Tochter. Das Mädchen wirkte verschüchtert, gar ängstlich. Hatte sie vielleicht doch etwas von der Entführung mitbekommen? Während der Fahrt hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Hannah wollte nicht daran
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