Der Fluch des Denver Kristoff
meiner Bibliothek gestohlen!«
»Ich … ich hab mir doch nur was ausgeliehen …« Ein Windstoß schleuderte Cordelia gegen die nächste Wand. Der gesamte Inhalt des Raums – ein Pizzakarton, Becher voller Limonade, eine Speisekarte von Pino’s, die Fernbedienung – wurde von dem Sog erfasst und wirbelte im Kreis herum. Brendan musste sich am Sofa festkrallen, um aufrecht stehen zu bleiben.
»Für die Ehre meines Vaters!«, heulte Dahlia Kristoff. »Für all das Böse, das ihm von den Walkers angetan wurde! Dafür, dass das große Buch in seiner Ruhe gestört wurde! Für die feige Absprache mit Dr. Hayes! Für Denver Kristoff, der von Neuem wieder lebt, wie er immer leben wird! Ein Leben für ein Leben, so will es die Windfurie, aus einer zerrissenen Seite soll eine wiedergeborene Seite entstehen!«
Peng! Mit einem lauten Knall klappten die Fensterläden im Wohnzimmer zu. Brendan hörte, wie auch in der Küche und in der Bibliothek die Fensterläden krachend zuschlugen. Dann hob eine der griechischen Vasen vom Boden ab und kam auf ihn zugeflogen. Er duckte sich gerade noch rechtzeitig, doch die Vase sauste weiter auf Mrs Walker zu. Sie betete kniend und mit geschlossenen Augen.
»Mom!«, schrie Brendan auf. Die Vase streifte seine Mutter und zerschmetterte an der Wand und unter einem Regen aus Scherben kippte seine Mutter zur Seite.
»Auf den Boden!«, brüllte Dr. Walker seinen Kindern zu und stürzte zu seiner Frau. Doch der Chesterfield-Sessel erwischte ihn von der Seite – derselbe, in dem er am Nachmittag noch geschlafen hatte – und Dr. Walker sackte in sich zusammen. Aus einem unerfindlichen Grund blitzte in Brendans Erinnerung die Szene auf, als seine Mutter die Maklerin Diane Dobson gefragt hatte, Stehen die Möbel auch zum Verkauf?, und darauf Dianes Antwort, Alles steht zum Verkauf.
Die Windfurie – so hatte sie sich selbst genannt; So will es die Windfurie – wirbelte Mr und Mrs Walker in eine Ecke des Wohnzimmers. Dort lagen sie aneinandergelehnt, nicht bei Bewusstsein. Brendan, Cordelia und Eleanor kauerten am anderen Ende des Raums, in der Nähe des Klaviers.
Die Grundmauern der Villa Kristoff erzitterten.
Würde das Haus gleich umkippen und ins Meer rutschen?, fragte sich Brendan. Der Fernseher hob ab und schwebte auf ihn zu, die Marx Brothers grinsten ihm teuflisch entgegen, bis das Kabel aus der Steckdose gerissen wurde und der Bildschirm erlosch. Der Fernseher zerschmetterte an der Wand hinter ihm, Plastiksplitter und Scherben des LCD-Bildschirms wirbelten umher – »Augen zu, Nell!«, schrie Brendan.
Brendans jüngere Schwester hatte sich zu einer kleinen Kugel zusammengerollt. Bücher aus der Bibliothek nebenan kamen durch die Verbindungstür ins Wohnzimmer geflogen und hagelten auf Brendan und seine Geschwister herunter. Es war wie ein Angriff dieser schrecklichen Vögel aus dem Hitchcock-Film, den Brendan einmal gesehen hatte. Jedes Mal, wenn ein aufgeklapptes Buch mit flatternden Seiten an ihm vorbeiflog, ertönten aus dem Inneren schrille Stimmen, die mit altertümlichem Akzent danach verlangten, freigelassen zu werden.
»Deli!«, rief Brendan. Er hatte nur noch einen Gedanken: das hier heil überstehen – und sicherstellen, dass seine Familie überlebte. Seine Eltern lagen bewusstlos am anderen Ende des Zimmers; für sie konnte er im Moment nichts tun. Aber ich muss doch meine Schwestern beschützen!
Cordelia konnte er nicht ausmachen. Der Wind raubte ihm fast den Atem, die herumfliegenden Teile machten ihn blind. Er kniff kurz die Augen zu, rieb sie einmal kräftig, dann öffnete er sie blinzelnd und versuchte, irgendetwas zu erkennen. Direkt vor seiner Nase schwebten drei in Leder gebundene Bücher. Plötzlich schienen sie zu wachsen, von Wörterbuchgröße schwollen sie an, bis sie Lexikonausmaße angenommen hatten. Unfassbar!
Brendan schrie, doch er konnte seine Stimme nicht mehr hören. Dann sah er, dass auch der Raum um ihn herum immer größer wurde. Die Decke hatte sich mindestens schon fünfzehn Meter vom Boden entfernt und stieg mit jeder Sekunde noch ein Stück höher. Es war, als würde sich das Haus strecken und immer weiter ausdehnen. Während die Windfurie in schwindelerregender Höhe über allem schwebte und mit grausamem Blick wie ein von der falschen Seite gesandter Racheengel zu ihnen heruntersah, flogen zu guter Letzt auch noch die Bücherregale aus der Bibliothek durch die enormen Flügeltüren herein. Wuchtig und selbst in leerem Zustand von
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