Der Fluch des Florentiners
Die barocke Kapelle auf dem Hügel vor dem kleinen Ort war kaum zu erkennen. Dunkle Regenwolken hingen über den Berggipfeln um den See herum.
Marie-Claire war beeindruckt. Gregors Haus lag an einem bewaldeten Hang einige hundert Meter oberhalb von Mari a wörth. Der Blick hinab auf den mittleren Teil der drei miteinander verbundenen, mit Inseln und Halbinseln durchset z ten Seen war grandios. In der einbrechenden Dunkelheit konnte sie die romantisch im Wald versteckte Villa nur schemenhaft erkennen. Es war ein idyllisches Anwesen, dominiert von einer dreigeschossigen Fachwerkvilla mit schiefergedeckten Tür m chen und Erkern und einem Park, so groß wie ein Fußballfeld. Uralte Bäume säumten die Zufahrt. Kein Namensschild oder irgendein anderer Hinweis verriet, wem diese herrschaftliche Villa gehörte. Sie war sehr lange nicht mehr am Wörthersee gewesen. Mit ih m v erband sie viele Erinnerungen. Als Kind hatte ein Sommeraufenthalt am See zu den alljährlichen Pflich t veranstaltung ihrer Eltern gehört. Mal waren es Seminare, zu denen ihr Vater geladen worden war, mal Einladungen zu rauschenden Festen der hier etablierten High Society oder Besuche bei Verwandten in Klagenfurt, die sie bisher geführt hatten. Für Marie-Claire waren es meist sehr langweilige Tage gewesen. Wer in Osterreich was auf sich hielt, hatte hier am Wörthersee eine Villa. Die Reichen lockten die Massen an wie Speck die Mäuse. Die Zauberformel der Gegenwart hieß Event-Tourismus. Fernsehsendungen wie Das Schloss am Wörthersee kreierten einen lärmenden Bustourismus. Heerscharen von Gaffern und Hunderttausende Kaffeefahrtenbesucher eilten seither an die Ufer des Sees. In Pörtschach prägten längst grauenhafte Betonsilohotels, Souvenir- und Würstchenbuden die einst so romantische Uferpromenade. Die Grundstückspreise waren in astronomische Höhen geschnellt. Von einem ihrer Freunde wusste sie, dass eine der kaum mehr erhältlichen Lizenzen für ein Motorboot auf dem See jetzt rund siebzigta u send Euro im Jahr kostete. Es gab genug Leute, die willens und in der Lage waren, diese horrende Summe zu bezahlen.
Mit den seit einigen Jahren stattfindenden Beach-Volleyball -W eltmeisterschaften am Strandbad in Klagenfurt pilgerten nun allerdings auch jugendliche Partyjünger und Sportfreaks nach Kirnten. Die da einst dieses landschaftliche Juwel knapp vier Stunden südlich von Wien als Deluxe-Wochenend- und Sommerrefugium auserkoren hatten, stöhnten unter dem Szenen-Hype des Jungvolkes, das in der Diskothek » Fabrik « m it der Fête Blanche das Party-Highlight des Sommers feierte, während das selbst ernannte Establishment am See mit dem Weißen Fest auf der Moosburg eine dekadente Variant e d agegensetzte. Der Dresscode war für alle gleich: Es musste ein weißes Outfit sein.
Die Massen standen an den Würstchenbuden Schlange, während Österreichs Crème de la Crème im Restaurant Leon auf Schloss Leonstain bei Pörtschach schlemmte. Oder in der Orangerie des Tophotels am See überhaupt: dem Fünf-Sterne-Relais & Chateau-Etablissement Seefels, wohin, wer Rang und Namen hatte, mit dem Boot zum Dinner fuhr. Gregor schien beides zu haben. Als sie mit seinem gut zehn Meter langen, mit Mahagonitäfelung und weißen Ledersesseln ausgestatteten Motorboot vom West- zum Ostufer schipperten und am Seefels anlegten, erwartete sie ein smarter Hotelangestellter bereits mit einem » Grüß Gott, gnädige Frau – schön, Sie wieder einmal zu sehen, Herr von Freysing «. Weil das Seerestaurant Porto Bello nur im Sommer geöffnet war, führte der weiß livrierte Angestellte sie an den im Restaurant bereits reservierten Tisch mit Blick auf den See. Sie hatten kaum Platz genommen, als der Küchenchef, ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann mit Brille und relativ langen, mittelblonden Haaren, herbeieilte. Er begrüßte Gregor sehr vertraulich, machte Marie-Claire eine widerwärtig schleimig wirkende Aufwartung und schlug ein Menü vor, bei dem sie begriff, dass sie schon seit zwei Tagen nicht mehr richtig gegessen und daher einen unvorstellbaren Hunger hatte.
» Der Jahreszeit entsprechend, verehrte gnädige Frau … «, parlierte der Küchenchef wie auswendig gelernt, » würde ich Ihnen als Entrée den Yellow-fin-Tunfisch mit Wasabi-Panna-Cotta oder den Kefir-Limonen-Cappuccino mit Seeteufel und schwarzem Sesam empfehlen. Als Spezialität des Wörthersees kann ich Ihnen danach nur zu der Lasagne vom Bachsaibling mit Blattspinat, Forellenkaviar und
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