Der Fluch des Khan
Böden des riesigen Bauwerks, das aus grünem Marmor und mit Blattgold verzierten Steinen bestand, waren mit glasierten Kacheln belegt, die Räume mit atemberaubenden Gemälden und Skulpturen von Chinas fähigsten Künstlern ausgestattet. Shangtu diente zunächst hauptsächlich als Sommerpalast für den Kaiser, an dem er der in Peking herrschenden Hitze entrinnen konnte, entwickelte sich aber rasch zu einem Zentrum von Wissenschaft und Kultur. Ein Krankenhaus und ein Observatorium wurden gebaut, und die Stadt wurde zu einer Anlaufstelle für Gelehrte aus dem In- und Ausland. Ein ständiger Wind, der über die Hügel strich, sorgte für angenehme Kühle, während der Kaiser und seine Gäste über ein Reich herrschten, das sich von Korea bis ans Mittelmeer erstreckte.
Doch es waren vor allem die angrenzenden kaiserlichen Jagdgründe, für die der Palast gerühmt wurde – ein weitläufiger, eingefriedeter Park mit Bäumen, Wasserläufen und dichtem Gras, der alles in allem vierzig Quadratkilometer umfasste. Dort tummelten sich Hirsche, Wildschweine und anderes Getier, auf das der Kaiser und seine Gäste Jagd machen konnten. Erhöhte Pfade zogen sich durch die Anlage, damit die Jäger keine nassen Füße bekamen. Auf erhaltenen Tapisserien ist der Kaiser zu sehen, wie er auf seinem Lieblingspferd, begleitet von einem abgerichteten Jagdgeparden, dem Weidwerk nachgeht.
Nachdem er über Jahrhunderte hinweg verlassen, vernachlässigt und geplündert worden war, blieben von dem Palast kaum mehr als verstreute Trümmer übrig. Daher war es Hunt nahezu unmöglich, sich die üppigen Gartenanlagen mit ihren Springbrunnen, Quellen und Hainen vorzustellen, die es hier einst gegeben haben musste. Jetzt wirkte die Landschaft karg und trostlos. Eine weite, grasbewachsene Ebene erstreckte sich zu den braunen Hügeln in der Ferne. Weit und breit war kein Lebewesen zu sehen, und nur der Wind, der durch das hohe Gras strich, raunte vom verblassten Ruhm der Stadt. Xanadu, die romantische Bezeichnung für Shang-tu, die durch den Dichter Samuel Taylor Coleridge bekannt wurde, lebte nur noch in der Phantasie fort.
Vor drei Jahren hatte Hunt mit Erlaubnis der nationalistischen Regierung mit den Ausgrabungen begonnen. Spatenstich um Spatenstich hatte er die Grundmauern des Pavillons der großen Harmonie freigelegt, war auf eine größere Halle gestoßen, eine Küche und einen Speisesaal. Eine Reihe von Artefakten aus Bronze und Porzellan, die er der Erde entrissen hatte, kündete vom Alltagsleben im Palast. Aber zu Hunts Enttäuschung entdeckte er keine überwältigenden Kunstgegenstände, weder Terrakotta-Armeen noch Ming-Vasen, mit denen er sich einen Namen hätte machen können. Jetzt war die Grabung fast abgeschlossen, nur noch die Überreste des kaiserlichen Schlafgemachs mussten freigelegt werden. Der Großteil seiner Kollegen war bereits aus Ostchina geflohen, da sie nicht in die Wirren des Bürgerkriegs geraten oder einer einfallenden ausländischen Armee in die Hände fallen wollten. Hunt jedoch, der das ganze Geschehen von der Grabungsstätte in Nordwestchina aus verfolgte, nicht weit von der Mandschurei entfernt, schien eine geradezu diebische Freude an dem Durcheinander und der drohenden Gefahr zu haben. Für Geschehnisse von großer Tragweite hatte er fast ebenso viel übrig wie für Altertümer. Er wusste, dass hier, in diesem Augenblick, Geschichte geschrieben wurde – und er steckte mittendrin.
Hunt wusste aber auch, dass man beim Britischen Museum mit den Funden, die er für die geplante Ausstellung zum Thema Xanadu zur Verfügung stellen konnte, sehr zufrieden sein würde. Das Chaos und die gefährliche Lage, die durch den Einmarsch der Japaner entstanden waren, kamen ihm sogar zugute. Dadurch wurden die Artefakte, die er in den Westen mitbringen wollte, nur umso reizvoller, und die Ausfuhr ließ sich zudem leichter bewerkstelligen. Hier in der Gegend waren bereits sämtliche Vertreter der Obrigkeit aus den umliegenden Dörfern geflohen, und die für die Beaufsichtigung der Altertümer zuständigen Regierungsbediensteten hatte er seit Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Vermutlich konnte er die Fundstücke mühelos außer Landes schaffen. Immer unter der Voraussetzung, dass es ihm gelang, ebenfalls zu verschwinden.
»Ich glaube, ich habe Sie lange genug von Ihrer Familie ferngehalten, Tsendyn. Ich bezweifle, dass die Russen die Japaner in der Mongolei herumschleichen lassen, daher sollten Sie dort vor diesem Wahnsinn
Weitere Kostenlose Bücher