Der Fluch des Khan
und tot.
Langsam ging er zu der Gestalt, beugte sich darüber und leuchtete den Leichnam mit seinem Strahler an. Die offenen Augen des sonst so ruppigen Kapitäns starrten ihn reglos an, die Miene wirkte leicht verwundert. Der alte Fischer trug ein T-Shirt, seine Beine steckten unter der Zudecke, die straff gespannt war und so verhindert hatte, dass er wegtrieb.
Pitt richtete seine Lampe auf den Kopf des Fischers und strich mit den Fingern am Haaransatz entlang. Knapp fünf Zentimeter über dem Ohr stieß er auf eine leichte Schwellung. Die Haut war zwar nicht aufgeplatzt, aber offensichtlich hatte der Mann infolge eines heftigen Schlages einen Schädelbruch erlitten. Pitt fragte sich, ob der alte Mann durch den Hieb gestorben oder ertrunken war, als er bewusstlos in der überfluteten Kabine liegen blieb.
Als der Strahl von Giordinos Lampe plötzlich unter der Tür auftauchte, suchte Pitt sorgfältig den Boden unter der Koje ab.
Auf dem Teppich lag nichts. Er sah weder einen Porzellankrug, noch einen Briefbeschwerer oder irgendwelche Wodkaflaschen, die von einem Regal gefallen sein und den Mann versehentlich getroffen haben könnten. Der Raum enthielt keinerlei Ausstattung, eine leer stehende Kabine, die man dem Fischer zugeteilt hatte, der seinerseits keinerlei Habseligkeiten bei sich hatte.
Pitt warf einen weiteren Blick auf den alten Mann und wusste, dass sein erster Eindruck richtig gewesen war. Von dem Moment an, da er ihn gesehen hatte, war ihm klar gewesen, dass der Fischer nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen war.
Er war ermordet worden.
7
S ie ist weg«, stieß Gunn aus, der vor Wut rot angelaufen war.
»Irgendjemand hat die Festplatte mit unserer Datei herausgerissen und ist damit verschwunden. Sämtliche Daten, alles, was wir in den letzten zwei Wochen zusammengetragen haben, alles ist weg.«
Gunn schäumte weiter, während er Pitt und Giordino unterhalb der Brücke beim Ablegen ihrer Trockentauchanzüge half.
»Was ist mit den Sicherungs-DVDs, Rudi?«, fragte Pitt.
»Ganz recht«, warf Giordino ein, während er seinen Anzug auf einen Haken hängte. »Ich weiß doch, dass du – als Computerfreak – alles auf DVDs speicherst, vermutlich sogar doppelt und dreifach.«
»Die Kiste mit den DVDs fehlt ebenfalls«, rief Gunn. »Irgendjemand hat genau gewusst, was er mitnehmen muss.«
»Unser Freund Sarchow?«, fragte Giordino.
»Das glaube ich nicht«, wandte Pitt ein. »Seine Kabine sah nicht so aus, als hätte er sich absetzen wollen.«
»Ich begreife das nicht. Unsere Forschungsdaten sind nur für Wissenschaftler von Wert. Wir hätten unsere russischen Kollegen doch an allem teilhaben lassen. Wer sollte denn die Aufzeichnungen stehlen?«, fragte Gunn, dessen Ärger allmählich abklang.
»Vielleicht wollte man gar nicht die Daten stehlen«, sagte Pitt versonnen. »Vielleicht wollte man nur verhindern, dass wir bei der Auswertung irgendwas Bestimmtes entdecken.«
»Könnte sein«, pflichtete ihm Giordino bei. »Rudi, das heißt, dass deine geliebte Festplatte mittlerweile vermutlich am Grund des Baikalsees liegt und den Fischern die Netze ruiniert.«
»Soll das ein Trost sein?«, versetzte Gunn.
»Kopf hoch. Du bist immer noch besser dran als der alte Fischer.«
»Stimmt. Er hat sein Boot verloren«, sagte Gunn.
»Er hat mehr als das verloren«, erwiderte Pitt. Dann berichtete er von seiner Entdeckung in der Kabine.
»Aber warum sollte jemand einen alten Mann ermorden?«, fragte Gunn und schüttelte verständnislos den Kopf. »Und was ist mit den anderen? Wurden sie entführt? Oder haben sie sich freiwillig abgesetzt, nachdem sie den Fischer umgebracht und unsere wissenschaftlichen Daten vernichtet haben?«
Die gleiche Frage ging auch Pitt durch den Kopf, aber er wusste keine Antwort darauf.
Bis zum Mittag war ein Kabel vom Ufer bis zur
Wereschtschagin
gezogen worden, mit dem das auf Grund gelaufene Schiff mit Strom versorgt wurde, sodass man die Lenzpumpen wieder in Betrieb nehmen konnte. Außerdem wurden Hilfspumpen aufs Achterdeck gebracht, die im Jaulen der zugeschalteten Generatoren die überfluteten Abteilungen auspumpten. Langsam aber sicher hob sich das Achterschiff wieder aus dem Wasser, auch wenn es den wenigen verbliebenen Besatzungsmitgliedern, die vom Ufer aus zuschauten, viel zu langsam ging.
Inzwischen setzten die Einwohner von Listwjanka die Aufräumarbeiten nach der verheerenden Flutwelle fort. Der beliebte Fischmarkt war binnen kurzer Zeit in Ordnung gebracht,
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