Der Fluch des Khan
Öl. Washington hat lange Zeit versucht, unsere Abhängigkeit von Rohöl aus dem Nahen Osten zu verringern, aber nach wie vor beziehen wir fast fünfzig Prozent unserer gesamten Öleinfuhren aus Saudi-Arabien.«
»Was ist mit der Europäischen Union?«
»Westeuropa bezieht den Großteil seines Öls aus der Nordsee, aber die Einfuhren aus Saudi-Arabien spielen trotzdem eine große Rolle. Die geographische Nähe zu anderen Lieferanten sollte meiner Meinung nach ernsthafte Engpässe verhindern.
Nein, die am schwersten betroffenen Länder liegen in Asien.«
Clayton trank den letzten Schluck Kaffee, während sie auf ihrem Computer eine Datei abrief. Leicht befremdet stellte sie fest, dass alle Anwesenden sitzen blieben und auf jedes ihrer Worte achteten.
»Japan wird die Folgen am stärksten zu spüren bekommen«, sagte sie, während sie den Bericht überflog. »Die Japaner führen hundert Prozent ihres Ölbedarfs ein und wurden bereits durch das jüngste Erdbeben in Sibirien, bei dem ein Teil der Taischet-Nachodka-Pipeline ausfiel, schwer getroffen. Dieser Zwischenfall wurde zwar nicht allgemein bekannt, trieb den Ölpreis aber um drei bis vier Dollar pro Barrel nach oben«, stellte sie fest.
»Zweiundzwanzig Prozent der japanischen Öleinfuhren kommen aus Saudi-Arabien, infolgedessen werden die Einschnitte dort deutlich zu spüren sein. Allerdings könnte ein vorübergehender Anstieg der russischen Exporte den Druck etwas dämpfen, sobald die sibirische Pipeline wieder repariert ist.«
»Und China?«, meldete sich eine Stimme, die sie nicht kannte.
»Was ist mit der Brandkatastrophe bei Shanghai?«
Mit gerunzelter Stirn überflog Clayton ihren Text.
»Die Chinesen werden einen ähnlichen Schock durchmachen.
Nahezu zwanzig Prozent der chinesischen Öleinfuhren kommen aus Saudi-Arabien«, sagte sie, »und alles wird mit Tankern geliefert. Die Auswirkungen des Brandes im Ölterminal von Ningbo habe ich noch nicht berechnet, daher kann ich lediglich Mutmaßungen darüber anstellen. Aber in Verbindung mit der Katastrophe von Ras Tanura wird das dazu führen, dass die Chinesen in nächster Zeit mit großen Schwierigkeiten rechnen müssen.«
»Können die Chinesen denn auf alternative Lieferanten zurückgreifen?«, meldete sich jemand weit hinten.
»Nicht ohne Weiteres. Russland käme natürlich in Frage, aber die Russen verkaufen ihr Öl lieber in den Westen und nach Japan. Kasachstan könnte einspringen, aber die dortige Pipeline nach China ist bereits voll ausgelastet. Ich glaube, die Auswirkungen auf die chinesische Wirtschaft könnten gewaltig sein, zumal sie bereits unter Energieknappheit leidet.« Clayton nahm sich vor, die Situation in China genauer auszuloten, sobald sie wieder in ihrem Büro war.
»Sie haben vorhin von Treibstoffverknappung im Inland gesprochen«, sagte ein blasser Mann mit lila Schlips. »Wie schlimm wird es werden?«
»Ich rechne nur mit vorübergehenden Engpässen in bestimmten Gebieten, vorausgesetzt, es kommt zu keinen weiteren Auswirkungen auf die Märkte. Auch hier ist die Angst das Hauptproblem, mit dem wir es zu tun haben. Die Angst vor weiteren Einschränkungen des Angebots, ob echten oder eingebildeten, ist der eigentliche Übeltäter, der uns in einen völligen Zusammenbruch treiben könnte.«
Die Besprechung war vorüber, worauf ein Großteil der Bankleute mit mürrischer Miene in ihre grauen Bürokabuffs zurückeilte. Clayton nahm ihren Laptop und wollte gerade zur Tür gehen, als plötzlich jemand neben sie trat. Sie wandte sich um und stellte beklommen fest, dass es Eli war, so ungepflegt wie eh und je, mit Donut-Krümeln auf der Krawatte.
»Klasse Vortrag, Jan.« Eli grinste. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee spendieren?«
Sie biss die Zähne zusammen und nickte lächelnd. Mehr konnte sie nicht tun.
13
I n Peking herrschte drückende Schwüle. Hitze, Smog und Feuchtigkeit stauten sich über der überbevölkerten Stadt, auf deren verstopften Straßen es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Autos und Radfahrern kam, die einander die Vorfahrt streitig machten. Mütter schnappten ihre Kinder und zogen zu den zahlreichen Seen der Stadt, um dort Linderung zu suchen. Halbwüchsige Straßenhändler, die verschwitzten Touristen und durstigen Geschäftsleuten eisgekühlte Coca-Cola verkauften, erzielten astronomische Gewinne.
In dem großen Besprechungssaal innerhalb der Zentrale der Kommunistischen Partei Chinas, die gut abgeschirmt im Westen der
Weitere Kostenlose Bücher