Der Fluch des Khan
erhabenen Kanten der drei Metallscharniere stieß, die an der Innenseite herausragten. Er hob den Brieföffner in das oberste Scharnier und hebelte vorsichtig den langen Metallstift heraus. Nachdem er auch die Stifte aus den beiden anderen Scharnieren gezogen hatte, hob er die Tür behutsam an und zog sie schräg in den Raum, bis der Riegel auf der Außenseite aus der Zuhaltung sprang. Dann stahl er sich hinaus auf den Flur und zog die Tür wieder in den Rahmen, sodass es auf den ersten Blick so aussah, als wäre sie noch immer verschlossen und verriegelt.
Der Gang war verlassen, daher schlich er auf Zehenspitzen zu Theresas Zimmer nebenan. Er löste den Riegel, öffnete die Tür und sah sie wartend auf dem Bett sitzen.
»Du hast es geschafft«, flüsterte sie, als sie ihn im Licht stehen sah, das vom Gang hereinfiel.
Roy schenkte ihr ein schmales Lächeln, dann bedeutete er ihr mit einem kurzen Nicken, ihm zu folgen. Sie huschten in den Korridor und liefen langsam in Richtung Eingangshalle. Eine Reihe schwacher, in Bodenhöhe angebrachter Lämpchen sorgte für gedämpftes Licht im Gang, in dem sich allem Anschein nach niemand aufhielt. Theresas Gummisohlen quietschten auf dem Marmorboden, daher blieb sie stehen, zog die Schuhe aus und lief auf Socken weiter.
Roy und Theresa drückten sich an die Wand, als sie sich der Eingangshalle näherten, die von einem großen Kristalllüster hell erleuchtet war, dann rückten sie vorsichtig weiter vor. Roy ging in die Hocke und huschte zu einem schmalen Fenster neben dem Eingang. Er spähte hinaus, kehrte zu Theresa zurück und schüttelte den Kopf. Trotz der späten Stunde waren draußen immer noch zwei Wachen postiert. Also mussten sie einen anderen Ausweg finden.
Und stellten fest, dass sie sich hier in der Eingangshalle am Fuß eines umgekehrten T befanden. Die Gästezimmer befanden sich links, die Privaträume der Bewohner vermutlich rechts.
Deshalb schlichen sie den breiten Hauptgang entlang, der zu dem Arbeitszimmer führte.
Im Haus blieb alles still, bis auf das Ticken einer alten Uhr im Gang. Sie kamen zum Arbeitszimmer und liefen weiter, schlichen auf Zehenspitzen an einem großen Speisesaal und zwei kleinen Konferenzräumen vorbei, die mit einer eindrucksvollen Sammlung von Antiquitäten aus der Song- und Jin-Dynastie ausgestattet waren. Theresa suchte die Decken nach weiteren Kameras ab, sah aber keine. Dann drang ein Flüstern an ihr Ohr und sie ergriff unwillkürlich Roys Arm, der seinerseits zusammenzuckte, als sie ihm die scharfen Fingernägel in die Haut grub. Beide entspannten sich wieder, als ihnen klar wurde, dass das Geräusch lediglich vom Wind stammte, der draußen um das Gebäude strich.
Der Korridor endete in einem großen, offenen Wohnzimmer, das auf drei Seiten von Fenstern gesäumt wurde, die vom Boden bis zur Decke reichten. Bei Nacht gab es zwar nicht viel zu sehen, aber Theresa und Roy ahnten doch, welch grandiose Aussicht man von hier oben, hoch am Berg, auf die leicht gewellte Steppe unten im Tal haben musste. In der Nähe des Eingangs entdeckte Roy eine mit Teppichboden belegte Treppe, die nach unten führte. Er deutete dorthin, worauf Theresa nickte und ihm lautlos folgte. Der weiche Teppichboden war Balsam für ihre Füße, die auf dem harten Marmor allmählich ermüdet waren. Als sie zu einem Treppenabsatz kamen, blickte sie auf und sah das große Porträt eines alten Kriegers. Der Mann auf dem Bild saß hoch aufgerichtet auf seinem Pferd und trug einen mit Pelz verbrämten Mantel, eine orangene Schärpe und den typischen Rundhelm der Mongolen. Triumphierend starrte er sie aus gold-schwarzen Augen an. Er hatte den Mund zu einem leichten Grinsen verzogen und zeigte seine spritz zugefeilten Zähne, die sie an Borjin erinnerten. Das Gemälde wirkte so lebensecht, dass sie unwillkürlich erschauderte, sich dann rasch abwandte und die letzten Stufen hinabstieg.
Am Fuß der Treppe befand sich ein Korridor, der ein kurzes Stück vom Haus wegführte. Auf der einen Seite waren Fenster, hinter denen ein großer Innenhof lag. Theresa und Roy spähten durch das nächstgelegene dieser Fenster und sahen die Umrisse eines freistehenden Bauwerks.
»Hier muss es irgendwo eine Tür auf den Hof geben«, flüsterte Roy. »Wenn wir da rauskommen, können wir vielleicht den Flügel mit den Gästezimmern umgehen und uns zur Garage schleichen.«
»Für Jim ist das aber ein weiter Weg. Wenigstens scheint es hier keine Wachen zu geben. Komm, wir suchen die
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