Der Fluch des Khan
und lenkte sein Pferd genau auf Theresa und Roy zu.
Roy erkannte sofort, dass er sie über den Haufen reiten wollte.
Er warf einen kurzen Blick zu Theresa, sah, dass sie vor Angst und Verwirrung weder ein noch aus wusste.
»Weg!«, schrie er, packte Theresa am Ellbogen und stieß sie aus der Gefahrenzone. Der Reiter war schon fast da, und Roy konnte dem anpreschenden Pferd gerade noch ausweichen, wurde aber noch vom Steigbügel gestreift. Sobald er wieder festen Fuß gefasst hatte, tat er das Unvorstellbare. Statt Deckung zu suchen, drehte er sich um und rannte dem galoppierenden Pferd hinterher.
Der nichts ahnende Reiter sprengte noch ein paar Meter weiter, zügelte dann sein Pferd und zog es nach rechts, um die nächste Attacke zu reiten. Als er herumfuhr, sah er Roy unmittelbar vor sich stehen. Der Seismik-Ingenieur streckte die Arme aus, ergriff die locker herabhängenden Zügel und riss sie jäh nach unten.
»Schluss mit dem Ritterspiel«, grummelte er.
Der Reiter schaute noch immer mit verständnislosem Blick auf Roy, während er das schnaubende Tier zu bändigen versuchte, das dichte Atemwolken aus den Nüstern blies.
»Neiiiiin!« Theresa stieß einen gellenden Schrei aus, so laut, dass man ihn noch in Tibet hätte hören können.
Roy warf einen Blick auf Theresa, die am Boden lag, aber offenbar nicht in unmittelbarer Gefahr schwebte. Dann hörte er ein leises Zischen und sah gerade noch, wie etwas auf ihn zuflog. Im nächsten Augenblick hatte er das Gefühl, als legte sich eine Schraubzwinge um seine Brust, dann meinte er inwendig zu verbrennen. Ein jähes Schwindelgefühl übermannte ihn, und er sank auf die Knie, als Theresa auftauchte und ihn die Arme nahm.
Die rasiermesserscharfe Spitze des Pfeils, den der zweite Reiter abschoss, hatte Roys Herz verfehlt, aber nur um Haaresbreite. Stattdessen hatte das in seine Brust eingedrungene Geschoss die Lungenarterie durchbohrt. Die Wirkung war nahezu die gleiche – schwere innere Blutungen, die binnen Kurzem zum Herzstillstand führten.
Verzweifelt versuchte Theresa das aus der Eintrittswunde quellende Blut zu stillen, aber gegen die inneren Verletzungen war sie machtlos. Sie hielt ihn fest, als sein Gesicht jede Farbe verlor. Keuchend rang er nach Luft, dann wurde sein Körper schlaffer. Einen Moment lang strahlten seine Augen auf, und Theresa meinte, er würde es vielleicht überstehen. Er schaute sie an und stieß ein gequältes »Rette dich selber« aus. Dann schloss er die Augen und war tot.
17
D ie Passagiermaschine, eine TU-154 der Aeroflot, zog eine langsame Kurve über der Stadt Ulan-Bator, drehte dann in den Wind und setzte zum Landeanflug auf den Buyan-Ucha-Airport an. Bei wolkenlosem Himmel genoss Pitt von seinem engen Fensterplatz aus die Aussicht auf diese weitläufige Stadt und die Landschaft der Umgebung. Zahlreiche Kräne und Bulldozer deuteten darauf hin, dass die Hauptstadt der Mongolei im Umbruch begriffen war.
Auf den ersten Blick wirkt Ulan-Bator wie eine Ostblock-Metropole, die in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stehen geblieben ist. Ein Großteil der Stadt, in der immerhin 1,2 Millionen Menschen wohnen, ist im typisch sowjetischen Baustil errichtet, gesichtslos und gleichförmig. Triste graue Plattenbauten, so anheimelnd wie ein Zellenblock, prägen zu Dutzenden das Stadtbild. Und auch bei den großen Gebäudeblocks der Regierung, die das Stadtzentrum umgeben, hat man erst im Nachhinein ein gewisses Stilbewusstsein entwickelt.
Doch die neu gewonnene Unabhängigkeit, die dem Land eine erste Kostprobe in Sachen Demokratie und ein gewisses Wirtschaftswachstum bescherte, löste in der Stadt eine Aufbruchstimmung aus sowie den offenkundigen Wunsch nach Fortschritt und Moderne. Schmucke Geschäfte, noble Restaurants und blühende Nachtclubs stehlen sich allmählich in das einst so muffige Stadtbild.
Im Grunde stellt die Stadt eine angenehme Mischung aus Alt und Neu dar. In den Außenbezirken stehen noch immer zahllose Jurten oder
Ger,
wie sie von den Einheimischen genannt werden, runde Zelte aus Filz, seit jeher die traditionelle Behausung der nomadisch lebenden mongolischen Hirten und ihrer Familien. Tausende dieser grauen oder weißen Zelte drängen sich dicht an dicht auf den offenen Feldern rings um die Hauptstadt, die einzige echte Metropole des Landes.
Im Westen weiß man nur wenig über die Mongolei, von Dschingis Khan und mongolischem Rindfleisch einmal abgesehen. Das nur dünn besiedelte Land, das im
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