Der Fluch des Koenigs
Strähnen fuhren und sie zu einem festen Zopf flochten.
Der Wind nahm zu, stob durch das Schilf und ließ es hin und her schwanken. Die Art, wie die Stängel aneinander schabten, klang wie das heisere Atmen eines Aschewesens. Mit einem Mal verwandelten sich die Schilfreihen vor Moas Augen zu Gitterstäben und in den Geräuschen des Windes vernahm sie ein fernes Wehklagen.
Rasch wandte sie den Blick ab und drehte sich zu Joesin herum. Ein hauchfeiner Zug von Traurigkeit lag um seinen Mund.
„Das ist besser so zum Fliegen“, sagte er leise und legte den blonden Zopf über ihre Schulter.
„Wa-?“
Ein gewaltiger Luftzug brachte das Schilf zum Rauschen. Joesin nahm ihren Arm und zog sie aus der Fläche des toten Schilfes heraus.
Moa hob eine Hand vor die Augen und schaute auf. Aus dem tiefblauen Nachthimmel senkte sich eine riesenhafte Gestalt auf sie herab. Lose Pflanzen und Blütenblätter wurden aufgewirbelt und das Schilf bog sich elegant zurück, um dem Greifen Platz zu machen. Seine Löwenpranken kamen federleicht auf dem Boden auf, als er mit weit gespreizten Flügeln landete.
Der Raubvogel kam Moa noch größer vor als in der Nacht auf der Terrasse. Stolz verschränkte er die Flügel auf seinem Rücken und beugte sein Haupt Joesin entgegen, der einen Schritt nach vorne getreten war. Er streckte die Hand aus und fuhr bedächtig über den dunkelgrauen Schnabel und die feinen Federn am Kopf des Greifen. Ockerfarbene Augen blickten ihn dabei wachsam an und richteten sich dann auf Moa.
Sie war bei dem Erscheinen des gewaltigen Geschöpfes wie angewurzelt stehen geblieben. Ihr war klar, dass dieser Raubvogel alles andere als zahm war; eine unbändige Wildheit lag in seinen Augen und drückte sich in jeder seiner Bewegungen aus. Wenn er wollte, könnte er sie mit seinem scharfen Schnabel oder den klauenbesetzten Pranken innerhalb weniger Herzschläge zerfleischen.
Es war ihr ein Rätsel, wie Joesin furchtlos so nahe an ihn herantreten konnte und ihm dabei wie selbstverständlich mit der Hand über die grau und braun schimmernden Federn seines Halses strich.
Plötzlich legte der Greif den Kopf zurück und stieß einen hellen Schrei aus. Moa zuckte zusammen und stolperte einige Schritte zurück. Der Schwanz des Greifen peitschte unruhig durch die Luft.
Joesin murmelte ein paar Worte in die spitzen Ohres des Greifen, woraufhin dieser den Kopf schüttelte und ein Krächzen hören ließ. Dann streckte Joesin eine Hand nach ihr aus. „Hab keine Angst, Moa.“
Zweifelnd sah sie zu ihm hoch und dann an ihm vorbei zu Rach, der nun ruhig, mit schiefgelegtem Kopf dastand und in ihre Richtung schaute.
„Er ist zu groß.“ Sie machte einen Schritt zur Seite, um Rach besser sehen zu können. Seine gelben Augen folgten aufmerksam jeder ihrer Bewegungen.
Joesin war mit einem Schritt bei ihr, legte eine Hand auf ihren Rücken und schob sie in Richtung des Greifen. „Er ist klug genug, um Freund von Feind zu unterscheiden.“ Die Worte sollten wohl beruhigend wirken, hatten jedoch den gegenteiligen Effekt bei Moa. Wie konnte sie wissen, als was das Untier sie sah?
Rachs mächtiger Kopf erhob sich direkt vor ihr, sein Schnabel so groß wie die Axt eines Henkers.
Moa stemmte sich gegen Joesins Hand, doch er hielt sie unbarmherzig fest und ließ sie nicht ausweichen, bis sie ganz nahe am Hals des Tieres stand. Rach hatte den Kopf zu ihr gedreht, seine Augen leuchteten auf wie die einer Raubkatze. Moa starrte wie gebannt in diese Augen. Sie waren so groß wie ihre Hand.
„Berühr ihn“, forderte Joesin sie auf.
Zögernd hob Moa eine Hand und legte sie auf die langen, weichen Federn an Rachs Hals, jederzeit bereit dazu, die Flucht anzutreten. Mit klopfendem Herzen wartete sie darauf, dass der Raubvogel nach ihr hacken würde. Doch nichts dergleichen geschah. Rach senkte lediglich den Kopf und gab ein sanftes Gurren von sich.
„Siehst du.“ Ein zaghaftes Lächeln huschte über Joesins Gesicht.
Auf ein Zeichen von ihm legte Rach sich hin und spreizte die Flügel ein wenig. Joesin ging an Moa vorbei und schwang sich auf seinen Rücken. Der Greif stieß einen leisen Schrei aus, der in der Nacht verhallte. Lässig beugte Joesin sich vor und bot Moa seine Hand an. „Steig auf.“
Ein schwindelerregendes Gefühl von Angst gemischt mit freudiger Erwartung schoss ihr durch die Adern. Weshalb sie ihrem Entführer auf einmal Vertraute, konnte sie sich nicht erklären. Vermutlich lag es daran, dass er vor ihren Augen
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