Der Fluch des Koenigs
hatte.
Aeshin biss sich hart auf die Unterlippe, zwang ihre Gedanken fort von dieser Erinnerung. Stattdessen rief sie sich auf eine Geschichte ins Gedächtnis, die sie früher gerne gehört hatte. Sie handelte von zwei Kindern, die auf verschiedenen Hügeln lebten und durch einen wilden, brausenden Fluss voneinander getrennt waren. Aeshin schwor die genauen Worte herauf und erzählte sich die Geschichte wieder und wieder, so wie ihre Mutter es früher getan hatte. Die Kinder wären beinahe ertrunken in dem Versuch beieinander zu sein, doch ein Kimmlanwal war ihnen zur Hilfe gekommen und hatte sie zurück an Land gebracht.
Aeshin schluckte. Hier gab es kein Wasser, keine Wale, nur Schmerz, den Geruch von Angst und Blut und verbranntem Fleisch. Der Boden bestand aus Asche. Ruß hatte ihr Kleid beschmutzt, ihre Beine, die Arme und das Haar.
Aeshin ballte die Hände zu Fäusten. Sie durfte nicht nachgeben. Wenn sie sich der Angst und dem Schmerz ergab, würde es nur schlimmer werden.
Eine Berührung an ihrem Arm. Aeshin schrie auf und riss den Kopf hoch. Sie hatte erwartet in die gefühlsleeren Augen eines schwarzgewandeten Alchemisten zu blicken, doch stattdessen sah sie in ein faltendurchzogenes Gesicht, umrahmt von grauen Locken, das sie voll Mitgefühl von hinter den Käfigstangen anschaute.
„Gräfin Vosha.“ Aeshins Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Fantasierte sie bereits? Aber die Berührung auf ihrem Arm war so real. „Was tut Ihr hier unten?“
Vosha rang sich ein Lächeln ab. Es war ihr deutlich anzusehen, wie sehr die Kerker ihr zusetzten. Sie kniete vor dem Käfig, und ihr gerüschtes Gewand war über und über mit Asche bedeckt. Hinter ihr standen zwei Soldaten mit grimmigem Gesichtsausdruck. Ihre Augen zuckten nervös durch die Kerkergewölbe. Nach dem Entsetzen auf ihren Gesichtern zu schließen waren sie ebenso wie Vosha noch nie hier unten gewesen.
Aeshin hingegen hatte die Kerker bereits mehrere Male an der Seite des Prinzen betreten. Er hatte gesagt, er käme häufig hinunter, um sich daran zu erinnern, wogegen er kämpfte.
Aeshin legte ihre Hand auf Voshas. „Ihr solltet nicht hier sein, Gräfin.“
Ein harter Ausdruck trat in die Augen der älteren Dame. „Ebenso wenig wie du.“ Sie griff in ihre unzähligen Rocklagen und zog einen halb gefüllten Wasserschlauch daraus hervor.
Aeshin staunte nicht schlecht. „Gräfin wie - “
Vosha unterbrach sie mit einer raschen Geste. „Ich habe nicht viel Zeit“, sagte sie und reichte Aeshin den Schlauch durch die Gitterstäbe. „Trinkt schnell und trinkt alles auf einmal.
Aeshin war verwirrt, doch sie nickte dankbar und setzte den Schlauch an. Sie trank in gierigen Zügen und es dauerte nicht lang, bis der letzte Tropfen fort war. Sie reichte Vosha den Schlauch zurück und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
„Das Wasser hatte einen seltsamen Geschmack“, murmelte sie, verwundert darüber, dass sich ihre Zunge plötzlich so taub anfühlte.
Vosha strich ihr die Haare aus der Stirn. Es war eine so fürsorgliche, mütterliche Geste, dass Aeshin die Tränen kamen. „Du wirst keine Schmerzen haben und die Nacht durchschlafen. Wenn du morgen aufwachst, wirst du einen sauren Geschmack im Mund haben. Dann kau das hier.“ Die Gräfin reichte Aeshin einen Strauch frischer Pfefferminze.
Aeshin starrte verwundert darauf und steckte es in ihren Ärmel. Das war schwieriger als sie gedacht hätte, denn ihre Glieder wollten ihr kaum mehr gehorchen, ständig verschwamm alles vor ihren Augen, ihre Lider wurden schwer.
„Ihr habt mir ...“, Aeshin Zunge gehorchte ihr nicht mehr. Sie lehnte den Kopf zurück an die Käfigwand und schloss die Augen.
„So ist gut“, hörte sie die leise Stimme der Gräfin. „Halte durch Aeshin, der Prinz ist auf dem Weg.“
„Alawas“, flüsterte Aeshin. Dann schlief sie ein.
Kapitel 22
Die Luft roch salzig. Das war das erste, das Moa auffiel, als sie erwachte. Ein Geräusch wie Donner drang an ihre Ohren. Wütete das Gewitter noch immer über ihnen? Stöhnend fasste sie sich an den Kopf. Ihr Körper fühlte sich an, als habe man ihn durch die Mangel gedreht. Moa öffnete die Augen und setzte sich auf.
Sie lag auf einer Binsenmatte in einem großen Raum, dessen Wände vollkommen aus dunklem, feuchtem Stein bestanden. Das einzige Licht rührte von einer Öllampe her, die auf einem Vorsprung in der Wand stand. Daneben befand sich eine Schüssel aus weißem Material, vermutlich Walknochen, die mit
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