Der Fluch des Nebelgeistes 01 - Meister der Schatten
gegen das Protokoll verstoßen, indem sie die beiden unaussprechlichsten Themen angeschnitten hatte, die die Zauberinnen des Inneren Kreises sich überhaupt vorstellen konnten.
Der seit dem Siegeszug des Nebelgeistes verschwundene Kristall, der als Wegestein bekannt war, konnte die Kräfte von einhundertachzig Koriani-Zauberinnen freisetzen und an eine einzige Macht binden. Sethvir wußte möglicherweise, wo sich das Juwel befand, aber die Schwesternschaft stand der Bruderschaft der Sieben traditionell zutiefst ablehnend, ja grollend gegenüber. Elaira jedoch verachtete den Stolz ihrer Lehrerin, der es ihr verbat, Hilfe zu erbitten. Dennoch war sie bis heute nie so dreist gewesen, dies auch auszusprechen. In der eingetretenen Stille, während derer die Erste Zauberin um ihre Haltung rang, wünschte sich Elaira, sie hätte geschwiegen.
»Du solltest besonnener sein.« Lirenda verdrehte den Kopf mit der Grazie einer Katze auf Beutezug. »Da du dich während deiner Arbeit an den Herdenzaubern Tagträumereien hingegeben hast und vorlaut warst, wirst du achtzehn Stunden lang ohne Pause die Wache über den Zweiten Weg halten. Wenn ich von der diensthabenden Ältesten eine Beschwerde über dich erhalte, dann werde ich sie der Obersten Zauberin vortragen.«
Lirenda wirbelte herum und verließ den Arbeitsraum. Das Rascheln von Seide legte sich über das stete Prasseln des Regens. Allein in dem modrigen Geruch von Kräutern und Staub fluchte Elaira enttäuscht. Achtzehn Stunden, ganz bestimmt würde dann auch ein Sturm aufziehen, dachte sie bekümmert; wie traurig, daß ihre Kraft nicht alle vier Elemente zu beeinflussen vermochte, sonst hätte sie ihre Aufgabe trockenen Fußes und ohne zu frieren hinter sich bringen können. Leider gehorchte jedoch nur das Wasser ihren noch dürftigen Fähigkeiten richtig. Wütend, ohne die Kerzen zu löschen und den Tisch aufzuräumen, riß sie ihren Umhang vom Haken, stieß die Außentür mit dem Fuß auf und stampfte die ausgetretenen Stufen in den kalten Nachmittag hinunter.
Die Schieferplatten des alten herzoglichen Hofes glänzten wie Stahl, der mit von moosbewachsenen Rissen durchzogen war, unter ihren Füßen. Die niedrigen Mauern, die einst als Einfassungen von Beeten gedient hatten, wurden nun von wild rankenden Kletten und Wildrosenbüschen überwuchert, deren Blätter vom frühen Frost braun geworden waren. Der undurchdringliche Nebel hatte die Jahreszeiten verändert und die Erde ihrer rechtmäßigen Ernte beraubt. Die verhärteten Stengel verdorbener Früchte reckten ihre verkrüppelten Stümpfe in den Wind. Über dem Rand eines Fischteiches breitete eine Krähe ihre Flügel aus und flog davon, als Elaira sich näherte. Resigniert setzte sich die Zauberin an den Platz, den die Krähe freigemacht hatte, und starrte in das dunkle schmutzige Wasser des Teiches.
Mit geübter Entschlossenheit verbannte sie die oberflächlichen Empfindungen, das Niederprasseln des Regens, die Kälte und die Wut, aus ihren Gedanken. Langsam schwanden die Details ihrer Umgebung und wurden durch das perfekt ausbalancierte innere Gleichgewicht ersetzt. Alsbald vernahm sie ein dünnes, pulsierendes Wimmern in ihrem Geist; Elaira erkannte den Sirenengesang des Zweiten Weges, eines der zwölf Kanäle der magnetischen Kraft, die die Welt von Athera ordneten. Sie brachte ihr Bewußtsein in Harmonie, verschmolz mit der Welt von Norden nach Süden, getragen vom Strom des Zweiten Weges.
Regentropfen benetzten ihr Haar und liefen eiskalt über ihren Nacken. Unbewußt schauderte Elaira. Mit geübter Finesse verknüpfte sie die Ablenkungen mit der Resonanz des Zweiten Weges zu einem Netz zwischen ihrem Geist und dem Wasser. Ein Schatten erschien auf der vom Regen aufgewühlten Wasseroberfläche. Die Gestalt wurde deutlicher, bis sich schließlich das Bild eines Magiers mit silbernem Haar und eines fetten Propheten zeigte, die ihre schweißnassen Pferde vor einem Weltentor zügelten. Pflichtbewußt notierte Elaira ihre Anwesenheit und zog weiter.
Der Fluch von Mearth
Bis zur Unkenntlichkeit verfallen, erhoben sich die Ruinen von Mearth gleich Zähnen über die Dünen rostfarbenen Sandes. Lysaer trat in den Schatten der Mauern unter der tiefstehenden Sonne und fragte sich, was für ein Volk das gewesen sein mochte, das mitten in dieser Einöde eine Stadt errichtet hatte. Arithon schwieg die meiste Zeit, nachdem er darauf hingewiesen hatte, daß die Hitze möglicherweise weniger gefährlich war, als
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