Der Fluch des Nebelgeistes 01 - Meister der Schatten
bröckelnden Fundament entwickelte sich zu regelrechtem Lärm.
Plötzlich packten die Finger des Herrn der Schatten seinen Ellbogen. Erschreckt blickte Lysaer auf. Ruinen von Türmen streckten sich dem Himmel entgegen, überzogen von den blutroten Strahlen der schwindenden Sonne. Dahinter erhob sich die verschnörkelte Silhouette eines Weltentores. Unverwechselbar, selbst aus der Distanz, schimmerte ein silbriges Kraftnetz unter dem Torbogen.
»Daelion, Herr des Schicksals! Du hattest recht!« Freudig erregt grinste Lysaer seinen Begleiter an. »Bestimmt können wir der Roten Wüste noch vor Sonnenuntergang entkommen.«
Arithon enthielt sich der Antwort. Aufgebracht wollte Lysaer sich losreißen, doch sein Halbbruder verstärkte warnend seinen Griff. Nach einem Augenblick erkannte auch Lysaer, was der Herr der Schatten vor ihm bemerkt hatte.
Eine Blase lebendiger Finsternis glitt über den Sand, wobei sie sich auf unheimliche Art aus dem Schatten eines herabgestürzten Balkons löste. Noch während der Prinz hinsah, bewegte sich das Ding um die verfallene Rundung einer Zisterne; in seiner Nähe war keine feste Materie zu sehen.
Scharf sog Arithon die Luft ein. »Der Fluch von Mearth. Wir sollten weitergehen.« Er eilte voran; der Schatten änderte die Richtung und glitt neben ihm her.
Von seinen eigenen Wahrnehmungen erschreckt, berührte Lysaer den Arm seines Halbbruders. »Gehorcht das Ding deiner Gabe?«
»Nein.« Lysaers Aufmerksamkeit richtete sich starr auf den dunklen Fleck. »Zumindest nicht direkt. Was du da siehst ist kein richtiger Schatten, sondern die Absorption von Licht.«
Lysaer fragte gar nicht erst, wie sein Halbbruder die Natur der Dunkelheit erraten konnte, die ihnen folgte. Seine eigene Gabe befähigte ihn, reflektiertes von direktem Licht zu unterscheiden, Licht aus Flammen von Sonnenlicht und noch viele andere Nuancen. Zweifellos waren Arithons Fähigkeiten durch die Schule von Rauven besser ausgebildet als die seinen.
Ohne Vorwarnung änderte der Schatten erneut die Richtung. Wie Tinte auf einer geneigten Oberfläche floß er über den Sand und streckte sich gefräßig den ersten lebenden Menschen entgegen, die die Straßen von Mearth in den letzten fünf Jahrhunderten betreten hatten.
Arithon blieb stehen und sprach ein Wort der alten Zunge, das Lysaer als Fluch erkannte. Dann streckte der Herr der Schatten seine Hände aus und ballte die schmalen Finger zu Fäusten. Eine Erschütterung befiel den Schatten, und er brodelte wie Flüssigkeit in einem Glasgefäß.
»Ich habe ihn festgehalten.« Freude über den Erfolg schwang in Arithons Stimme mit, doch auf seiner Stirn glänzte der Schweiß. »Lysaer, versuche es mit deinem Licht. Schlag so schnell und so stark zu wie du kannst.«
Der Prinz erhob seine gefalteten Hände und richtete seine Aufmerksamkeit auf eine zweite, innere Ebene, die sein Dasein seit seiner Geburt durchdrungen hatte. Er fühlte das rote Sonnenlicht auf seinem Rücken, unermüdlich wie die Kraft der Gezeiten und begierig wie ein ölgetränkter Holzscheit, bereit für den Funken, den sein Geist zu erzeugen vermochte. Lysaer beschloß, den Weg des bereits existierenden Lichtes nicht zu verändern. Gegen den Schatten von Mearth wollte er sein eigenes Licht erschaffen.
Die Kraft floß wie ein Strom durch seinen Geist. Aus einem, ihm selbst nicht begreifbaren, inneren Brunnen strömte sie hinaus, und ein sanftes Prickeln begleitete ihren Weg. Lysaer war sich der Unzulänglichkeiten seiner Vorgehensweise bewußt, wußte jedoch nicht, wie er sie vermeiden konnte, also ergriff er die Energie mit eiserner Konzentration und öffnete dann seine Hände. Ein Klicken begleitete seine Bewegung, und ein strahlender, blendender Lichtbogen strich über den Sand und hinterließ eine ungestüme Hitze. Als das Blenden verschwand, war von dem Schatten nichts mehr zu sehen.
Arithon entließ den angehaltenen Atem aus seinen Lungen. In seinen Zügen stand aufrichtige Bewunderung, als er sich seinem Halbbruder zuwandte. »Das hast du gut gemacht. Dieser Schatten enthielt die Macht eines Zauberers. Jede Berührung hätte uns dem Muster ausgeliefert, das sein Schöpfer in ihm verankert hat, und so wahr Dharkaron mein Zeuge ist, dieses Muster bedeutet nichts Gutes. Von Mearth ist jedenfalls nicht mehr viel übrig.«
Voller Stolz ging Lysaer mit neugewonnenem Selbstvertrauen voran. »Was hat diesen Zauber für das Licht anfällig gemacht?«
Arithon schloß zu dem Prinzen auf.
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