Der Fluch des Nebelgeistes 02 - Herr des Lichts
verstanden sie sich besser auf die Tugend der Gastfreundschaft als die reichen Familien in den Städten. Als Elaira den Kreis der aus Lehmziegeln und Stroh erbauten Hütten erreicht hatte, trug ihre Stute zwei Knaben und ein Mädchen, die sich ehrlich bemühten, das wilde Tier, auf dessen Rücken sie saßen, trotz ihrer Aufregung nicht mit den Beinkuven an ihren Schuhen zu treten.
»Eine Fremde!« rief der älteste Knabe, und das Sumpfvolk eilte aus den Hütten.
Dünn wie Riedgras und knorrig wie Wurzelholz, wirkten sie alle unerbittlich stur, ganz im Gegensatz zu ihrer Großzügigkeit. Wie ihre Kinder hießen auch sie Elaira willkommen, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß sie unbewaffnet war. Innerhalb einer Stunde war ihre Stute in einem Pferch aus Weidengeflecht untergebracht, und sie selbst, glücklich gebadet und trocken, saß vor einem Torffeuer und nippte Tee von den Pflanzen, an denen sie sich zuvor noch die Kleider zerrissen hatte. Die Kinder umringten sie noch immer, stellten Fragen und setzten Knöpfe in einem Knöchelbeinspiel ein, das Elaira sie gelehrt hatte. Zu jung, sich von dem Spiel begeistern zu lassen, hockte das Jüngste der Kinder auf den Fellen vor ihren Füßen, griff nach den losen Enden ihrer Schnürsenkel und versuchte, sie in den Mund zu stecken.
»Geh da lieber weg.« Elaira griff nach unten, um das Baby von dieser Verlockung fortzuheben. »Ich glaube nicht, daß der Dreck den Geschmack verbessert.«
Das Kind, dessen Pläne so vereitelt wurden, kreischte, doch dieser Laut konnte den anderen, lauteren Schrei nicht verbergen, der von draußen erscholl.
Erschrocken sprang Elaira auf.
Der Schrei wiederholte sich, und nun erkannte sie die Stimme der Hüttenmutter, die in der Abenddämmerung hinausgegangen war, um frisches Wasser zum Kochen zu holen.
Elaira setzte den kleinen Jungen auf den Stuhl, während die anderen wie Kaninchen in Schlupfwinkeln zwischen für Flechtarbeiten aufgerollten Riedgrashalmen verschwanden. Ärger war diesen Kindern nicht fremd, und selbst die Kleinsten gaben nicht einmal ein Wimmern von sich. Die Zauberin umfaßte den Kristall, der an ihrem Hals hing, trat über die zurückgelassenen Knöchelbeine der Knaben hinweg und stürzte in die eisige Winterluft hinaus.
Dort blieb sie stehen. Mit einem gequälten Ächzen ihrer Lederangeln schloß sich hinter ihr die Tür der Hütte. Während der Schneematsch ihre eben erst getrockneten Zehen langsam wieder taub werden ließ, bemühte sie sich, den Ursprung der Aufregung auszumachen. Weit draußen im Sumpf, wo warme Quellen aus dem Boden hervorsprudelten, schrie die Frau noch immer durchdringend und voller Furcht.
Der Schneeregen hatte aufgehört, und der Wind roch sonderbar scharf. Elaira blinzelte. Etwas stimmte mit ihren Augen nicht.
Überall waren Schatten, scharfkantig wie Messer und viel zu blau. Die Helligkeit, die von den Schneeverwehungen ausging, schmerzte in den Augen, und vor ihnen hoben sich die Riedgräser und winterkahlen Dickichte so scharf wie Schwertklingen ab. Ahorngewächse, Eichen und Weiden zeigten sich dem Betrachter in unnatürlicher Klarheit, und ihre obersten Äste bildeten ein deutlich erkennbares Knäuel, das an verschüttete Tinte erinnerte. Elaira bemühte sich, ihre beschleunigte Atmung zu kontrollieren. Der Nebel war fort. Verschwunden. Um sie herum war die Nacht nebelfrei und klar. Vergessen entglitt der magische Kristall ihren Fingern, als sie verwundert den Kopf in den Nacken legte und zum Himmel aufblickte.
Dort, hinter den schwarzen Konturen der kahlen Äste, sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben Sterne: schöner als Morriels Diamanten schwebten sie in einem indigoblauen Feld, das unendlich tief und weit zu sein schien. Ein Schauder der Euphorie erfaßte sie und wandelte sich zu einem Jubelschrei: »Sie haben es geschafft! Gesegnet sei das königliche Blut von Athera, die Westtorprophezeiung ist erfüllt! Kommt heraus und seht selbst! Desh-Thiere ist geschlagen!«
Doch die Türen aller Lehmhütten blieben fest verschlossen. Elairas Verwunderung fand ein rasches Ende, als die heulende, schreckerfüllte Frau voller Hast an ihr vorbeirannte, um sich in Sicherheit zu bringen.
Elaira befreite sich resigniert aus dem Schlamm. Der widerliche Gestank des Sumpfes stellte hingegen ein Ärgernis dar, dem sie nicht so bald entrinnen konnte. Trotzdem konnte die Ernüchterung sie nicht berühren. Euphorie und die unvorstellbare Schönheit des Himmels verliehen ihr die grenzenlose
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