Der Fluch des Nebelgeistes 03 - Die Schiffe von Merior
heranwehenden Gebirgswinden geöffnet hatte. Im Winter hatte Schnee, von der Farbe zarter, mit filigranen Venen durchzogener, blasser Haut, auf dem Marmor gelegen. Im bernsteinfarbenen Licht heißer, shandischer Sommertage hingegen hatten blühende Ranken die Pfeiler erklommen, ihren Duft verströmt und Blütenblätter verteilt. Nun lagen Bretter auf den zu Tischbeinen umgewandelten, rissigen Pflanztrögen. Andere waren mit Bannen versiegelt worden und bargen wertvolle Schriften geheimer Wissenschaften. Die Brunnen und Fontänen waren mit Mörtel verfüllt worden. Purpurfarbene Teppiche, auf denen das silberne Wach- und Schutzsiegel von Koriathain prangte, verdeckten die Narben, die sie im Boden hinterlassen hatte.
Durch weitaus ältere Siegel an den Wänden und Deckenbalken floß immer noch eine mächtigere Kraft: die eingefangene Resonanz des Gesanges der Erde selbst, die klaren, hochschwingenden Vibrationen, die im Einklang mit den Sternenkonstellationen dem Lauf der Sonne folgten. Hätte es nicht die Bitterkeit gegeben, welche die Schöpfer dieser Siegel als jene sterblichen Ordensbrüder entlarvte, so wären diese Energieströme kaum von den geisterhaften, nachhallenden Harmonien zu unterscheiden gewesen, die die Mysterien der verschwundenen Paravianer dem Land eingeprägt hatten.
Doch nicht einmal der Trost, den die Bruderschaft Aths aus der Vergangenheit spendete, vermochte Elairas Zukunft erträglicher gestalten. Mit einem Gefühl bleierner Schwere schob sich die junge Novizin in das Sonnenlicht.
Unberührt vom Lauf der Jahrhunderte brannte inmitten des Raumes ein Zeremonienfeuer in einer bronzenen Kohlenpfanne. Eingenistet in einem großen Polstersessel hinter dem Feuer erwartete die Oberste Zauberin des Ordens der Korianischwestern ihre Ankunft. Sie war alt, ausgezehrt wie ein vertrocknetes Blatt. Die schroffen, verwitterten Gesichtszüge oberhalb des flügelförmigen Kragens waren so fleischlos, als bestünden sie nur mehr aus dem Schädelknochen selbst. Eine Wolke feinen Haares wurde von einem feinen, diamantbesetzten Haarnetz bedeckt. Die lavendel- und purpurfarbene Robe, ein Kennzeichen ihres hohen Standes, hüllte ihren Leib ein wie der Kelch einer Blume, und ihre Finger, so filigran wie vom Sturm entlaubte Zweige, ruhten entspannt in ihrem Schoß.
»Ich habe dich wohl verstanden«, sagte sie, und ihre Stimme hatte den heiseren Klang von trockenem Laub, das über rauhen Stein scharrte. »Deine Bedenken sind in dieser Angelegenheit nicht von Bedeutung.«
Die hochgewachsene, würdevolle Zauberin, mit der sie sprach, reckte das Kinn vor. Augen, bernsteinfarben wie die eines Tigers, blitzten unter der silbergefaßten Haube hochgestellter Ältester auf. »Das Mädchen ist schwach und ungeeignet. Können wir es wirklich wagen, einem Gefäß, das sich schon zweimal als mangelhaft gezeigt hat, eine so gewaltige Verantwortung anzuvertrauen?«
Morriel, Oberste Korianizauberin, stieß ein kurzatmiges, heiseres Gelächter aus. »Geziemt es denn dir, das zu beurteilen?« Sie faltete ihre klauenförmigen Hände, nur um sie gleich darauf ruhelos wieder voneinander zu trennen, denn gleich, welche Haltung sie auch wählte, keine vermochte ihren Schmerz zu lindern. »Gib acht und schau nach innen, Erste Zauberin. Es kann genauso gut dein Blick sein, der vernebelt ist. Ganz gewiß ist deine Sprache nachlässig.«
Ihre rasche Auffassungsgabe und ihr unfehlbarer Instinkt veranlaßten Elaira, von ihren Gewohnheiten abzulassen und ihrem nächsten Schritt ein leises Scharren zu gestatten.
Das Geräusch ließ die Erste Zauberin sogleich herumwirbeln. »Du!« Röte hinterließ lebhafte Flecken auf den aristokratischen Wangenknochen oberhalb der gefältelten Robe, die sich über ihre breiten Schultern spannte. Kleine Kämme hielten ihr ebenholzschwarzes Haar, und nicht eine Strähne lag am falschen Platze. »Wenn ich deine Herkunft bedenke, so sollte ich wohl annehmen, daß du dich durch den Keller hergeschlichen hast.«
»Der schnellste Weg«, konterte Elaira provokant in der Gossensprache ihrer Kinderzeit. Überhaupt nicht reumütig beeilte sie sich, der Obersten Zauberin die Ehre zu erweisen: »Ihr habt mich gerufen, Gebieterin«, sagte sie mit einem Knicks.
Mit Augen so schwarz und glanzlos wie aufgerauhtes Glas sah die alte Vettel zu, wie sie sich wieder aufrichtete. Sie sprach kein Wort, studierte sie nur mit der gnadenlosen Härte langgeübter Beobachtungsgabe, die es ihr gestattete, die Novizin auf subtilste
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