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Der Fluch des Nebelgeistes 04 - Die Saat der Zwietracht

Der Fluch des Nebelgeistes 04 - Die Saat der Zwietracht

Titel: Der Fluch des Nebelgeistes 04 - Die Saat der Zwietracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janny Wurts
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nicht, daß die Eingeweihten jedem Leben seinen Raum ließen. So verwechselte die Witwe ihre Art der Segnung mit schlichter Nachlässigkeit.
    Sie wagte nicht zu rufen, solange sie nicht wußte, ob die Stille ein Zeichen von Verlassenheit war. Um so mehr erschrak sie, als sich etwas bewegte und eine alte Frau in einer weißen Robe ihre Frage beantwortete, noch ehe sie ein Wort gesprochen hatte.
    »Bruder Claithen ist derjenige, der Euch helfen kann. Ihr müßt ein wenig warten. Er wird dann zu Euch kommen.«
    Jinesse wurde zu einer Bank unter einer alten Zypresse geführt. Sie kühlte ihre Füße in dem Wasser einer Quelle und hielt ihr Päckchen fest in der Hand. Nur die Schreie der Amseln, die sich wie kleine Drachen auf die Samenkörner stürzten, die ein ergrauter Koch aus der Tür der Spülküche geworfen hatte, störten den Frieden inmitten moosbewachsener Hartholzgewächse und ungeschnittener Zitrusbäume. Irgendwo im Blätterwald erklang der Ruf einer Wachtel.
    »Ihr habt ein Siegel, das ich für Euch identifizieren soll?« fragte eine Stimme mit scharfem Ton. – Erschrocken wirbelte Jinesse herum, um sich einem Mann mit dunklen Augen, einer Glatze und einem Buch, das er an die Brust gedrückt hielt, gegenüber zu sehen. Ein vergnügtes Lächeln erschien auf dem runzligen Gesicht. »Ich dachte, wir sollten uns das hier draußen ansehen, damit Aths gesegnete Sonne ihr Licht auf das Wissen wirft, nach dem Ihr begehrt.«
    Die Bank war groß genug für zwei, wenn sie auch ein wenig hoch für die kurzen Beine des Bruders war. Er setzte sich und ließ die Füße baumeln wie ein Kind, während er den dicken Wälzer auf seinen Schoß legte. Die heitere Gelassenheit, mit der er sie betrachtete, schien sie zu durchdringen und jeden Kummer aufzuspüren, den sie in ihrem Herzen barg. »Ihr habt eine Zeichnung mitgebracht«, sagte er rasch, um ihr zu helfen, ihre Scheu zu überwinden.
    Sie löste die Verschnürung von ihrem Päckchen. Aths gesegnete Sonne ließ die Zeichnung von dem Leoparden linkisch erscheinen, eine traurige und unerwartete Peinlichkeit. Das Original war so wie der Mann selbst, elegant und kraftvoll, geprägt von einer bezwingenden Wildheit, die sich dem unglücklichen Opfer zu spät erschloß, sich noch in Sicherheit zu flüchten.
    Schweigend betrachtete Claithen ihre Kreidezeichnung. Dann schlug er das Buch auf, blätterte durch die Seiten und brachte schließlich das gleiche Wappen zum Vorschein, nur daß dieses schwarz-goldene Bild auf einem tief grünen Hintergrund, gleich der Farbe feinster Smaragde, von bestrickender Schönheit war.
    Jinesse mußte des Lesens nicht mächtig sein, um die Bedeutung der Krone über dem sepiagetuschten Namen des Hauses zu erfassen.
    »Der königliche Schrein derer zu s’Ffalenn«, murmelte Claithen. Seine Hände, die nicht weniger mit Altersflecken bedeckt waren als die Seiten des Buches, entspannten sich, nachdem er die Schrift zugeklappt hatte. Er streckte die Hand aus und folgte mit dem Zeigefinger den Kreidelinien auf dem Blatt in ihrem Schoß.
    Ob dieses Zeichen nun Segen oder Fluch bedeutete, konnte Jinesse nicht beurteilen, doch teilte sich ihr durch die bloße Berührung Macht mit; und selbst durch das Papier hindurch fühlte sie das Kribbeln eines Mysteriums, das ihren Leib durchdrang. Die Geschichte, die sie ersonnen hatte, ihre Neugier zu erklären, verlor sich unausgesprochen, obgleich sie durchaus plausibel war: ständig wurde allerlei kurioses Strandgut angespült, sonderbare Zeugnisse der Vergangenheit, von der See zermürbt, salzverkrustet und fremdartig, verfingen sich nur allzu leicht in den Fischernetzen.
    Doch erschien es scheußlich, auch nur an eine Lüge zu denken, während Claithen sich mit einem beängstigenden Taktgefühl in Schweigen hüllte.
    »Wer könnte so ein Wappen tragen?« fragte Jinesse schließlich.
    Der Eingeweihte schob seine elfenbeinfarbenen Leinenstulpen hoch und zeichnete mit einem verkrüppelten Finger die Linien der unbeholfen kopierten Runen nach. »Hier steht: ›Für meine Söhne, von ihren Vorfahren, seit Torbrands Tagen.‹ Ihr Mann ist ein Sproß des Herrschergeschlechts zu Rathain. Ein Prinz aus dieser Linie ist zurückgekehrt. Seine Schatten halfen, das Sonnenlicht zurückzubringen.«
    Jinesse schloß die Augen und schluckte krampfhaft. Der Fremde, der in Merior Zuflucht gesucht hatte, verfügte über eine Macht, die weit gefährlicher als seine silberzüngige Überredungskunst war, über Fähigkeiten, weit

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