Der Fluch des Sündenbuchs: Historischer Roman (German Edition)
Jana vermutete, dass er damit größer wirken wollte, als er tatsächlich war. Er trat als einer der Ersten zu den Gefangenen und schritt die Reihe der Gefesselten mit prüfendem Blick ab. Vor einem der Männer blieb er stehen, drehte sich mit suchendem Blick um und rief: »Rodriguez?«
Aber der Schiffsarzt antwortete nicht. Da erblickte der Kapitän Conrad und winkte ihn ungeduldig zu sich.
»Pfeiffer, Ihr seid Arzt. Ich brauche Eure Hilfe. Untersucht die Zähne des Sklaven, ich will nur erstklassige Ware kaufen«, sagte er und zwang den Mann vor sich, den Mund zu öffnen.
Conrad rührte sich nicht vom Fleck, sein Gesichtsausdruck war finster.
»Worauf wartet Ihr, Pfeiffer?«, fragte der Kapitän ungeduldig.
»Ich bin Arzt. Ich behandle Menschen, wenn sie krank sind«, zischte Conrad zwischen zusammengebissenen Zähnen. Jana war sich sicher, dass der Kapitän ihn nicht verstehen konnte, und das war gut, denn sie wollte nicht, dass Conrad bereits vor der Abreise Schwierigkeiten mit Valdiva bekam. Gerade als sie ihn darauf aufmerksam machen wollte, wurde Conrad unsanft zur Seite gedrängt. Es war der Schiffsarzt Doktor Rodriguez, der ihm einen Stoß versetzt hatte. Rodriguez war ebenso groß wie Conrad, aber deutlich kräftiger. Mit seinem glänzenden schwarzen Haar, dem sauber gestutzten Bart und den auffallend breiten Schultern war er ein gutaussehender Mann.
Er bedachte Conrad mit einem mitleidigen Blick und meinte abfällig: »So leicht besaitet wie Ihr seid, solltet Ihr lieber gehen. Sobald wir die zwanzig kräftigsten Männer ausgesucht haben, werden wir sie brandmarken.« Er zeigte mit dem beringten Zeigefinger seiner rechten Hand zu einer Feuerstelle, wo ein Schmied mehrere Eisenstangen bereithielt. An deren Enden waren unterschiedliche Zeichen befestigt.
»Ich nehme an, Euer empfindlicher Magen verträgt den Geruch von verbranntem Menschenfleisch nicht, und wir wollen doch nicht, dass Euch schlecht wird. Vor allem nicht heute, wo ich so viel zu tun habe und mich nicht um Euch kümmern kann.«
»Bevor ich mich von Euch behandeln lasse, bitte ich den Schiffsjungen um Hilfe. Er hat mehr Ahnung von Medizin als Ihr.«
Rodriguez’ Gesicht verfinsterte sich, und Jana schloss für einen Moment die Augen. Sie ahnte, was jetzt kommen würde. Warum konnte Conrad nicht einfach seinen Mund halten, sich umdrehen und gehen? Hatte er den Schiffsarzt nicht schon genug gedemütigt, indem er den Finger des Matrosen gerettet hatte? Aber Conrad setzte noch eins drauf und fuhr fort: »Und was die Gefangenen anbelangt: Ich werde mich hinterher um die sinnlosen Verbrennungen kümmern, die Ihr den Männern zufügt. Denn solltet Ihr die Verletzungen nicht versorgen, werden die Gefangenen an den Folgen der eitrigen Wunden elend zu Grunde gehen, und Kapitän Valdiva landet mit toten Sklaven in Trinidad.«
»Das werdet Ihr unterlassen«, zischte Rodriguez voller Zorn. »Ihr seid lediglich ein Passagier auf der Santa Lucia. Wenn Ihr mir noch einmal ins Handwerk pfuscht, werdet Ihr es bereuen. Ich lasse mich von Euch nicht zum Narren machen.«
»Das brauche ich nicht, denn Ihr …« Weiter kam Conrad nicht, denn Jana versetzte ihm nun einen so heftigen Stoß in die Rippen, dass er zusammenzuckte und sie verärgert anstarrte.
»Was …?«, fragte er.
Aber Jana schüttelte bloß den Kopf.
Rodriguez sah zuerst Jana, dann Conrad an, schnaufte verächtlich und lachte schließlich laut. Dann drehte er sich um und folgte Valdiva, der bereits weitergegangen und vor einem besonders kräftigen Mann stehen geblieben war. Es war der Gefangene, der sich zuvor schützend vor den Jungen gestellt hatte.
»Mach den Mund auf«, befahl der Kapitän. Aber der Mann blieb regungslos stehen. Valdiva riss seinen eigenen Mund auf, um dem Gefangenen zu demonstrieren, was er von ihm wollte, doch der Mann tat so, als würde er ihn nicht verstehen. Da trat Rodriguez zu ihm und schlug dem Gefesselten mit einem Stock brutal in die Kniekehlen, dabei sah er aber nicht den Gefangenen, sondern Conrad an. Es war unschwer zu erkennen, wem der Schlag tatsächlich gegolten hatte. Augenblicklich sackte der Schwarze auf die Knie. Nun griff Rodriguez brutal in die kurzen krausen Haare des Mannes und riss seinen Kopf zurück. Valdiva nickte zufrieden und kniff den Kiefer des Sklaven zusammen, der Mund öffnete sich gegen dessen Willen. Wut blitzte in den dunkelbraunen Augen auf, aber keinerlei Angst.
»Seine Zähne sind in Ordnung«, sagte Valdiva, ließ den Kiefer
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