Der Fluch des Sündenbuchs: Historischer Roman (German Edition)
der grobe Tisch und die wackeligen Stühle.
»Wusstest du, dass wir in einem Piratennest gelandet sind?« Richard senkte seine Stimme und beugte sich über den Tisch. »Unser ehrenwerter Kapitän und sein zahnloser Steuermann arbeiten mit Piraten zusammen.«
Tom wich vor der Alkoholfahne zurück.
»Selbst der Mann, dem die Taverne gehört, soll früher ein Pirat gewesen sein. Angeblich ist er für Königin Elisabeth zur See gefahren. Vielleicht kennt er meinen Schwiegervater.« Richard kicherte über seinen Witz. Aber Tom verdrehte bloß genervt die Augen.
Richard schenkte sich erneut nach und trank.
»Fast so gut wie Aqua Vitae«, meinte er versonnen. »Leider kann die Gaststätte nicht mit den gemütlichen Gasthäusern in London mithalten.« Er machte eine ausladende Geste und zeigte auf das Palmblätterdach.
Tom verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Wenn der Diener sich aussuchen könnte, wo er seinen Lebensabend verbringen wollte, würde er sich für die warme Insel in der Karibik entscheiden statt für die verregnete Stadt London. Er selbst fand die Piraten nicht so fürchterlich wie Richard.
»Wusstet Ihr, dass die Piraten ihre eigenen Gesetze machen? Sie teilen die Beute gerecht untereinander auf und zahlen denjenigen unter ihnen, die beim Kampf verletzt wurden, eine Schadenssumme. Hundert Piaster für einen Finger, fünfhundert für den rechten Arm …«
Richard zog überrascht die Augenbrauen hoch: »Sie zahlen für verlorene Körperglieder? Noch dazu mit den wertvollen spanischen Goldmünzen?«
Tom nickte begeistert.
»Die verletzten Piraten können nicht mehr kämpfen, da ist es doch nur fair, wenn sie einen ordentlichen Batzen Geld erhalten. Stellt Euch vor, wenn die Grubenbesitzer in Wales oder die Betreiber der Werften in London mit ihren Arbeitern ähnlich umgehen würden. Arbeiter tragen überall ein hohes Risiko, sich zu verletzen, und wenn sie nicht mehr arbeiten können, leidet die ganze Familie.«
»Es gibt Verletzungen, gegen die keine Versicherung der Welt helfen kann«, sagte Richard düster und griff erneut zur Flasche. Die war aber leer.
»Sich ständig zu betrinken ist auch keine Lösung«, sagte Tom voller Verachtung. »Gott bestraft die Sünder.«
»Gott hat mich bereits grausam bestraft, das reicht für mehrere Leben.«
In dem Moment stürzte ein junger Bursche in die Hütte. Es war der Sohn des Tavernenbesitzers. Ein kleiner, drahtiger Junge mit abstehenden Ohren, Sommersprossen und kohlschwarzem Haar.
»Kapitän Jack Morgan und seine Männer haben eine portugiesische Nao vor Trinidad gekapert und sind nun auf dem Weg hierher. Das schöne Schiff steht in Flammen, was für ein Jammer, und an Bord war außer ein paar halb verhungerten Sklaven nichts wirklich Wertvolles!« Der Junge sprach eine Spur zu schnell und verhaspelte sich bei jedem Satz. So als wäre seine Zunge zu breit für seinen Mund.
»Woher weißt du das?«, fragte Tom.
»Er hat ein schnelles, kleines Segelboot vorausgeschickt.«
Unterdessen dachte Richard über den Wert der Ladung nach.
»Sklaven sind wertvoll!«, verbesserte er den Jungen.
Doch Tom erklärte: »Piraten verkaufen Sklaven nur, wenn sie sich nicht ihrer Sache anschließen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer der Männer sich für die Ketten statt für die Piraterie entscheiden würde.«
Das leuchtete Richard ein. Auch wenn er nicht verstehen konnte, warum die Piraten die Sklaven nicht einfach weiterverkauften. In allen anderen Belangen waren die Männer, denen er bis jetzt begegnet war, weder besonders feinfühlig noch zart besaitet. Sie schreckten weder vor Mord noch vor Vergewaltigungen zurück, umso erstaunlicher war ihre Einstellung gegenüber Sklaven.
So als könnte Tom Richards unausgesprochene Frage hören, sagte er: »Die meisten Piraten waren selbst einmal Sklaven oder Gefangene.«
Richard schüttelte den Kopf und meinte mit schiefem Grinsen: »Wo sind wir hier bloß gelandet?«
»Morgan hat eine Gefangene gemacht, die bringt er hierher. Er hofft, dass er Lösegeld ergattern kann.«
»Ah, Erpressung. Das hat uns in der Liste der Verbrechen noch gefehlt«, sagte Richard. »Ein wirklich netter Ort mit ganz entzückenden Zeitgenossen.« Er warf Tom einen Blick zu, der tat aber so, als hörte er ihn nicht.
»Das erste Schiff ist bereits in der großen Bucht gelandet. Ich bin sicher, dass Morgan und seine Männer herkommen werden«, rief der Junge begeistert.
»Wo sollen sie auch sonst hin?«, fragte Richard. »Außer
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