Der Fluch des Sündenbuchs: Historischer Roman (German Edition)
der Mann. »Piraten! Die Engländer sind froh, wenn wir ihre Erzfeinde, die Spanier und Holländer, überfallen und ausplündern. Deshalb tolerieren sie unseren Stützpunkt auf Tobago. Von hier aus können wir die ganze Karibik unsicher machen.«
Jana stolperte über Treibholz, das vor ihr im Sand lag. Sie hatte das Hindernis nicht rechtzeitig wahrgenommen. Ungeschickt rappelte sie sich wieder auf.
»Ihr solltet weniger Fragen stellen und besser auf den Weg aufpassen«, mahnte der Mann neben ihr.
»Wo bringt Ihr mich denn hin?«
»Alles zu seiner Zeit, und jetzt schweigt und geht weiter, ohne zu stolpern. Die anderen haben Morgans Taverne sicher schon erreicht«, sagte er entschieden und machte deutlich, dass er keine weiteren Fragen beantworten würde.
Nun wusste Jana wenigstens, dass sie auf dem Weg zu einer Taverne waren. Sie versuchte sich all die Karten, die sie in den letzten Wochen und Monaten gesehen hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber beim Namen Tobago wollten einfach keine Erinnerungen kommen. Die Karte, die sie selbst mit sich trug, würde ihr auch nicht weiterhelfen, denn sie zeigte ein Gebiet am Festland, tief im Westen, wo es Berge geben sollte. Im Moment war sie weit vom Festland und noch weiter von hohen Bergen entfernt. Der Sandstrand, über den sie liefen, war breit und flach. Wo er endete, wuchsen Palmen, auf denen grüne und gelbe Nüsse darauf warteten, geerntet zu werden. Es roch nach süßen, saftigen Früchten, die Jana nicht kannte. Sie sehnte sich nach einem Becher frischem, klarem Wasser und nach Conrad. Ob er sich aus dem brennenden Schiff hatte retten können? Jana fühlte sich schuldig. Sie hätte ihn rechtzeitig, am besten schon vor Tagen aus dem Lagerraum befreien müssen. Seit sie Gran Canaria verlassen hatte, war alles schiefgegangen. Wären sie geblieben, könnte sie jetzt in Conrads Armen liegen und die Sonne der Insel genießen. Aber wieder einmal hatte sie ihren sturen Kopf durchsetzen müssen und sich diesmal selbst mit ihrem Starrsinn ins Unglück getrieben. Ihre Gedankengänge wurden unterbrochen, denn hinter einer steilen Kurve tauchte unvermittelt ein winziges Dorf auf. Es bestand aus wenigen, aus Treibholz zusammengenagelten Hütten. Vor den windschiefen Behausungen wehten Kleidungsstücke an Wäscheleinen. Die Bukanier waren also Männer, die auf Sauberkeit Wert legten, oder ihre Frauen.
Der hagere Mann, der Jana begleitete, gehörte nicht dazu. Ein strenger, an Essig erinnernder Geruch ging von ihm aus. Aber Jana selbst roch nicht besser. Wie viele Wochen waren seit ihrem letzten Bad vergangen?
»So, da wären wir«, sagte der Mann. »Kapitän Jack Morgan wartet schon auf Euch.«
Er deutete auf die größte der Hütten, die auf Pfählen stand und über ein sorgsam gedecktes Palmenblattdach verfügte. Vor der Eingangstür wehte eine schwarze Fahne, auf der ein weißer Totenkopf zu sehen war. Es war das Hauptquartier der Piraten. Jana spürte, wie ihre Nervosität zurückkehrte und sie unkontrolliert zu zittern begann. Ihr Kopf zuckte, und die Hände vibrierten. Sie konnte nichts dagegen tun, es war, als hätte ihr Körper sich selbständig gemacht. Er gehorchte ihr nicht mehr.
Wiederwillig stieg sie die Holztreppen hoch. Ihr Begleiter folgte ihr humpelnd. Er trat neben sie und stieß die Tür mit einem kräftigen Ruck auf. Augenblicklich drang Jana der Geruch nach Alkohol, Rauch und ungewaschenen Männerkörpern entgegen. Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle übergeben. Die Übelkeit verdrängte das Zittern.
Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an das Halbdunkel im Raum gewöhnten. Sie blinzelte und sah sich um. An niedrigen Tischen hockten Männer, lachten, tranken und hielten merkwürdige kleine Stangen zwischen den Fingern, die aussahen wie eingerollte Blätter. Die vorderen Enden der Stangen qualmten, an den hinteren saugten sie wie kleine Kinder an den Brüsten ihrer Mütter. Der Geruch, den die qualmenden Stangen verströmten, war bitter, stechend und verursachte ein Kratzen im Hals.
Für ausreichend Licht im Raum sorgten winzige Fenster und rußende Öllampen. Die Decke war niedrig, und selbst Jana hätte die Balken berühren können, wäre sie nicht gefesselt gewesen. Im hinteren Teil des Raums stand ein besonders großer Tisch. Dort saß ein Mann, dessen Gesicht Jana wegen der Dunkelheit noch nicht genau erkennen konnte. Seine aufrechte Haltung und sein auffallend hoher Hut mit drei modischen Federn wiesen ihn als wichtigen Mann aus.
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