Der Fluch des Verächters - Covenant 01
um und verteilten sich so, daß sie alle in die aufgegangene Sonne blickten, ohne daß ihnen jemand im Blickfeld stand. Einer nach dem anderen hoben die Bluthüter eine Hand an den Mund und stießen einen durchdringenden Pfiff aus, der von den Mauern der Herrenhöh wider- und weithin durch die Morgendämmerung hallte. Danach wiederholten sie ihre Pfiffe ein zweites und auch drittes Mal, und jeder Pfiff klang so heftig und einsam wie der Schrei eines Herzens. Dem allerletzten Pfiff jedoch antworteten ein fernes Wiehern und der dumpfe Hufschlag großer Tiere. Alle Augen wandten sich erwartungsvoll ostwärts, blinzelten in die morgendliche Pracht. Für einen ausgedehnten Moment war nichts zu sehen, und der dumpfe Donner in der Erde verwandelte sich für die Versammelten in eine wesenlose Erscheinung, eine mystische Manifestation. Aber dann konnte man die Pferde im Umkreis der Sonnenscheibe erspähen, als wären sie inmitten des Himmelsfeuers materialisiert. Kurz darauf verließen die Ranyhyn die scheinbare Sonnennähe. Zehn von ihnen waren es, wilde Geschöpfe von herausfordernder Stärke, große, zottige Wesen mit wuchtig gewölbten Brustkörben und stolz gereckten Hälsen, ausgestattet sowohl mit der Zierlichkeit reinblütigen Gezüchts wie auch der kantigen Ebenmäßigkeit von Mustangs. Sie besaßen lange Mähnen und Schweife, die ihnen hinterherwehten, bewegten sich in einer Gangart, die so gestreckt war wie Gerten, und ihre Augen funkelten von rastloser Intelligenz. Sie galoppierten, Braune, Rotbraune und Rotschimmel, den Bluthütern entgegen. Covenant kannte sich mit Pferden gut genug aus, um zu bemerken, daß die Ranyhyn individuelle Unterschiede im gleichen Maße wie Menschen aufwiesen, aber eine Eigenschaft war ihnen gemeinsam: Alle hatten mitten auf der Stirn einen weißen Stern. Während sie sich näherten, in ihrem Rücken die Morgenröte loderte, wirkten sie wie eine Verkörperung des Landes – die Quintessenz von Gesundheit und Kraft. Vor den Bluthütern machten sie halt, warfen die Köpfe empor und wieherten. Und die Bluthüter verbeugten sich tief vor ihnen. Die Ranyhyn stampften mit den Hufen und schüttelten ihre Mähnen, als lachten sie über diese Bekundungen bloß menschlichen Respekts. Im nächsten Moment begrüßte Tuvor sie.
»Heil, Ranyhyn! Landdurchquerer und Stolzträger. Sonnenfleisch und Himmelsmähnen, wir sind froh, daß ihr unseren Ruf erhört habt! Wir müssen eine weite Reise von vielen Tagen Dauer antreten. Wollt ihr uns tragen?«
Zur Antwort nickten mehrere Pferde mit den Köpfen, einige andere sprangen im Kreis umher wie junge Hengste. Dann traten sie vor, jedes ging zu einem bestimmten Bluthüter und beschnupperte ihn, wie um ihn zum Aufsteigen zu ermutigen. Und das taten die Bluthüter dann auch, obwohl keines der Pferde Sattel oder Zaumzeug trug. Indem sie auf den bloßen Rücken der Ranyhyn ritten, ließen die Bluthüter sie im Kreis um das versammelte Aufgebot trotten und reihten sich schließlich neben den aufgesessenen Kriegern ein.
Covenant hatte den Eindruck, daß der Abmarsch nun wirklich unmittelbar bevorstand; er wollte die letzte Gelegenheit, um sich Aufschluß zu verschaffen, nicht versäumen und trat zu Osondrea. »Was hat das zu bedeuten?« erkundigte er sich. »Woher kommen sie?«
Der Lord wandte sich um und antwortete ihm nahezu eifrig, als sei er froh um die Ablenkung. »Natürlich ... du bist ja ein Fremdling. Na, wie soll ich eine so tiefgreifende Sache nur mit wenigen Worten erklären? Betrachte es so – die Ranyhyn sind frei, ungezähmt und wohnen in den Ebenen von Ra. Gepflegt werden sie von den Ramen, aber man kann sie nicht reiten, außer sie wählen sich selbst ihren Reiter. Sie treffen eine freie Wahl. Und sobald ein Ranyhyn sich einmal für einen Reiter entschieden hat, hält er ihm die Treue durchs Feuer und bis in den Tod. Wenige werden solche Auserwählte. Tamarantha ist der einzige lebende Lord, der mit einem Ranyhyn gesegnet ist ... Hynaril trägt sie voller Stolz. Weder Prothall noch Mhoram sind bisher auserwählt worden. Prothall zeigt auch wenig Interesse. Doch vermute ich, einer der Gründe, warum er den Weg durch den Süden vorgeschlagen hat, ist in Wahrheit, daß er Mhoram eine Möglichkeit einräumen will, erwählt zu werden. Aber gleichwohl. Seit der Zeit Hoch-Lord Kevins ist ein enges Band zwischen den Ranyhyn und den Bluthütern erwachsen. Aus vielerlei Gründen, von denen ich manche nur erraten kann, ist kein Bluthüter unerwählt
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